Porträts Brigitta Käser

Foto: Thomas Burla

„Ich erkenne meine Enkelin am Geruch“

Brigitta Käser lässt sich durch ihre Sehbehinderung nicht behindern. Sie ist viel unterwegs und immer beschäftigt. Zu ihrer Enkelin Céline hat sie eine besonders innige Beziehung.

Brigitta Käser empfängt die Besucherin beim Eingang des Wohnheims Mühlehalde, führt sie zum Lift und durch die Gänge – alles ohne Stock und ohne sich irgendwo festzuhalten. In ihrem  Zimmer fällt der Blick sofort auf eine angefangene Handarbeit, ein Körbchen, gehäkelt aus schwarzweisser Recyclingschnur. „Der Boden ist eine umhäkelte CD“, erklärt Brigitta Käser, „das gibt dem Ganzen die nötige Standfestigkeit.“ Kann sie ihre Arbeit denn sehen? Ist sie gar nicht so stark sehbehindert? „An manchen Tagen, wenn es mir sehr gut geht, kann ich noch die orangefarbenen Haltestangen in den Gängen erkennen. Ansonsten sehe ich so gut wie nichts mehr; Sie sind für mich einfach ein grosser schwarzer Klecks. Meine Häkel- oder Strickarbeiten ertaste ich mit den Fingern.“ Dasselbe gilt für die gestanzten Ledergürtel und anderen handwerklichen Arbeiten, die sie im Bildungs- und Begegnungszentrum Dietikon anfertigt. In dieser Einrichtung des SBV, des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, steht das nötige Werkzeug zur Verfügung, und immer auch eine Fachperson, die Unterstützung bieten kann. Die Bilder, die Brigitta Käser malt, entstehen hingegen in ihrem Zimmer. Sie zeigt das fertige Gemälde einer Landschaft, fährt mit den Fingern über die raue Farbpaste und benennt die Blumenwiese, den Fluss, die Brücke. Auf einer kleinen Staffelei steht eine angefangene Bleistiftskizze. Mehrere Häuser sind zu erkennen, im Vordergrund ein Fels. „Ich zeichne so, wie ich die Dinge in Erinnerung habe aus der Zeit, als ich noch besser sehen konnte.“

Lebenslanges Lernen

Brigitta Käser wurde 1952 geboren und war schon als Kind stark sehbehindert. Als sie in die Schule kam, konnte sie auch aus der ersten Reihe das Geschriebene an der Wandtafel nicht mehr entziffern. Also versuchte sie, bei ihrer Banknachbarin abzuschreiben, so gut es eben ging. Aufgefallen ist das kaum. Denn Brigittas Vater pflegte so etwa jedes Dreivierteljahr den Wohnort und meistens auch den Kanton zu wechseln. Noch bevor eine Lehrperson auf die Sehschwäche des Kindes richtig aufmerksam werden konnte, war die Schülerin wieder weg. Auch die Eltern machten von dem Problem kein Aufhebens. Schliesslich sahen alle ihre vier Kinder schlecht und trugen Brillen, so wie sie selber auch. Und einen Beruf brauchte ein Mädchen ohnehin nicht zu erlernen, schliesslich würde es heiraten und Kinder kriegen.

Brigitta sah das anders. Sie wollte auf eigenen Füssen stehen und bewarb sich um eine Lehrstelle als Verkäuferin in der Migros. „Da war ich schon zwanzig Jahre alt und zum ersten Mal verheiratet“, erzählt sie. „Obwohl ich sehr schlecht sah – ich hatte 15 oder 16 Minus-Dioptrien und trug „Flaschenböden“ – gab man mir eine Chance. Das fand ich gut. Ich war vielleicht nicht die beste Lehrtochter, aber ich habe es geschafft.“ Damit liess sie es aber nicht bewenden, sondern machte eine ganze Reihe von Weiterbildungen, unter anderem ein Buchhaltungsdiplom und eine Ausbildung zur Bürofachfrau. Später gründete sie ein eigenes Reinigungsunternehmen. Erst im Jahre 2010 musste sie es aufgeben, nachdem sich bei ihr eine Makuladegeneration eingestellt hatte. Das ist eine altersbedingte Zerstörung derjenigen Stelle auf der Netzhaut, welche das scharfe Sehen ermöglicht.

Brigitta Käser ist stolz auf das, was sie gemacht hat. Als einmal eine IV-Angestellte bemerkte, sie habe aber an vielen Orten und in vielen Berufen gearbeitet, gab sie keck zur Antwort: „Seien Sie doch froh, dass Sie mich nicht schon viel länger unterstützen mussten!“ Vor einiger Zeit hat sie angefangen, die Braille-Schrift zu erlernen. Inzwischen beherrscht sie die Vollschrift, die Kurzschrift wird sie sich noch beibringen. Mit der sogenannten Braillezeile, einem elektronischen Gerät, das in die Handtasche passt, kann sie überall mitschreiben und das Geschriebene sofort Zeile für Zeile ertasten. Dank modernster Hilfsmittel stehen sehbehinderten Menschen viele Möglichkeiten offen. Dokumente lassen sich einscannen und werden vom Computer vorgelesen, genauso wie die E-Mails oder eine SMS auf dem i-Phone. Eine spezielle App kann sogar Farben erkennen; Brigitta Käser macht sich einen Spass daraus, herauszufinden, wie denn ihre Besucherin angezogen ist. Das i-Phone ist zudem eine wichtige Orientierungshilfe auf den ausgedehnten Spaziergängen, die sie mit ihrer Hündin Moana unternimmt. Vor allem aber ruft es umgehend ihre Tochter und ihre Enkelin an, sobald sie ihm den Sprachbefehl dazu erteilt.

„Als meine Tochter Sibylle schwanger war, wollte sie unbedingt, dass ich bei der Geburt dabei bin“, erzählt die stolze Grossmutter. „Das war am 1. Februar 2009. Sehen konnte ich es nicht mehr genau, aber ich war diejenige, welche das Neugeborene als erste in den Armen hielt und badete. Später hat die Kleine oft bei mir übernachtet, wenn meine Tochter Nachtschicht hatte;  damals wohnte ich noch in einer eigenen Wohnung. So konnte ich eine Superbeziehung zu meiner Enkelin aufbauben. Ich erkenne sie am Geruch und an der Art, wie sie mich umarmt. Céline hat früh gelernt, dass sie sich bei mir anders verhalten muss. So ist sie mir zum Beispiel nie davon gerannt, bei anderen Erwachsenen natürlich schon; sie weiss, dass ich sie nicht suchen kann. Wenn wir zu dritt einkaufen gingen, hat sie mich geführt und sich mit erhobenem Finger vor die anderen Leute hingestellt und gesagt: „Achtung! Grosi sieht nichts!“ Céline fühlt sich für ihre Grossmutter verantwortlich und nimmt Menschen mit Handicap anders wahr als Kinder, die noch nie mit Behinderten in Kontakt gekommen sind. Besonders stolz war sie schon von klein auf, wenn sie mit Grosi und der Führhündin Moana unterwegs sein durfte und dabei mit einer eigenen Leine mit dem Hund verbunden war - zum Erstaunen der Leute. Jetzt wohnt Tochter Sibylle mit ihrer Familie nicht mehr in der Nähe, aber der Kontakt ist rege und man besucht sich mindestens einmal im Monat. Dank ihrer Hündin ist Brigitta Käser unabhängig und kann reisen, wohin sie will.

Liebe auf den ersten Blick

Während des ganzen Gesprächs hat Moana in ihrem Korb gedöst und hin und wieder leise geseufzt. Sie kann ausspannen, sie ist jetzt nicht im Dienst. „Sobald ich ihr das Führgeschirr anziehe, sagt Brigitta Käser, „ist es als ob man einen Schalter umlegt. Sie gehorcht aufs Wort und führt alle Kommandos sofort aus. Nehme ich es ihr ab und lasse sie laufen, probiert sie schon mal aus, wie weit sie gehen kann und reagiert erst auf das zweite Rufen - wie ein Kind eben.“ Auch jetzt, wo sie im Blindenheim wohnt, kümmert sich Brigitta selbständig um ihren Hund, kauft sein Essen, füttert und bürstet ihn. Und nimmt auf der Strasse auch seine Exkremente auf; das hat sie im Einführungskurs gelernt. „Ich bin mit Schäferhunden gross geworden und habe mir immer gesagt: ‚Wenn ich einmal pensioniert bin, will ich wieder einen Hund.’ Damals konnte ich nicht ahnen, dass es einmal ein speziell ausgebildetes Tier sein würde. Als man mich von der Schule für Blindenführhunde anrief und mir mitteilte, es seien gleich zwei Hunde da, die für mich geeignet wären, da war ich mir sicher, dass ich den hellen Hund wählen würde. Aber dann sah ich Moana, und der Fall war klar.“ Frau Käser gebraucht oft das Wort ‚sehen’, obwohl sie so gut wie nichts sieht. „Das ist eine Redensart und hat nichts mit der Sehkraft zu tun“ erklärt sie. Es ist also kein Faux-pas, wenn man zu einer blinden Person „Auf Wiedersehen“ sagt.

Andererseits werden Sehbehinderte immer mal wieder mit der Gedankenlosigkeit der Sehenden konfrontiert. Brigitta Käser erinnert sich, wie eine Verkäuferin in einem Kleiderladen nur mit ihrer Freundin sprach, die sie begleitete und nicht mit ihr selbst. Als ob sie nicht in der Lage wäre, ihre Wünsche zu formulieren. In solchen Situationen pflegt sie dann kühl zu bemerken: „Wissen Sie, ich habe mein Augenlicht verloren, nicht meinen Verstand.“ Schwierig wird es manchmal auch, wenn Leute auf der Strasse oder im Tram den Hund anfassen oder ihn rufen. Dann muss Brigitta Käser deutlich machen, dass der Führhund am Arbeiten ist und nicht abgelenkt werden darf. Dies sollte man auch Kindern klar machen. Vor kurzem wurde Brigitta zusammen mit Moana eingeladen, in Célines Schulklasse über die Zusammenarbeit von Mensch und Hund zu berichten. „Meine Enkelin war natürlich stolz, dass ihr Grosi sie in der Schule besuchte. Sie erzählte mir hinterher, sie habe sich sehr zusammennehmen müssen, um nicht die Fragen ihrer Klassenkameraden gleich selber zu beantworten. Sie habe nämlich alles gewusst.“ Aufklärung tut not, denn noch immer sind viele Leute schlecht informiert über Sehbehinderte und ihre Hilfsmittel. So meinte mal einer, die Orientierungsstreifen am Boden seien für den Rollkoffer.

Gegenseitige Hilfe

„Meine Hündin spürt, wenn es mir nicht so gut geht“, erzählt Brigitta Käser. „Bin ich einmal niedergeschlagen, dann kommt sie, legt ihren Kopf in meinen Schoss und will gestreichelt werden. Zudem merkt sie, wenn ich kurz vor einem epileptischen Anfall stehe; ich bin nämlich Epileptikerin. Dann kommt sie und stupst mich, sodass ich mich hinlegen und den Anfall verhindern kann. Das ist einfach toll. Wahrscheinlich merkt sie es an einer Veränderung meines Körpergeruchs.“ Dass sie auch Hilfe von anderen Menschen annehmen sollte, müsse sie noch lernen, sagt Brigitta Käser. „Es fällt mir immer noch schwer, zu klingeln, wenn ich zum Beispiel ein Glas umgestossen habe und nicht weiss, wo ich überall putzen muss.“ Dass sich ihre Sehbehinderung über so viele Jahre hin entwickelt hat, empfindet Brigitta als grossen Vorteil. Im Gegensatz zu den Menschen, die erst im Alter erblinden und damit nur schwer zurecht kommen. Ihre Erfahrungen kann sie im Heimrat der Mühlehalde einbringen, wo sie sich gerne engagiert. Den Übertritt von der eigenen Wohnung ins Wohnheim für blinde und sehbehinderte Menschen hat Brigitta Käser noch keine Sekunde bereut. Wie sehr sie sich hier wohlfühlt, wird in der Cafeteria deutlich, wo bald ein gemischte Runde zusammensitzt und plaudert. Mit einer der Bewohnerinnen – sie wird dieses Jahr hundert Jahre alt – trifft sich Brigitta Käser regelmässig zum Jass. Die Jasskarten sind grösser und speziell gekennzeichnet, die Regeln sind dieselben.

Porträts Brigitta Käser

Foto: Thomas Burla

„Ich erkenne meine Enkelin am Geruch“

Brigitta Käser lässt sich durch ihre Sehbehinderung nicht behindern. Sie ist viel unterwegs und immer beschäftigt. Zu ihrer Enkelin Céline hat sie eine besonders innige Beziehung.

Brigitta Käser empfängt die Besucherin beim Eingang des Wohnheims Mühlehalde, führt sie zum Lift und durch die Gänge – alles ohne Stock und ohne sich irgendwo festzuhalten. In ihrem  Zimmer fällt der Blick sofort auf eine angefangene Handarbeit, ein Körbchen, gehäkelt aus schwarzweisser Recyclingschnur. „Der Boden ist eine umhäkelte CD“, erklärt Brigitta Käser, „das gibt dem Ganzen die nötige Standfestigkeit.“ Kann sie ihre Arbeit denn sehen? Ist sie gar nicht so stark sehbehindert? „An manchen Tagen, wenn es mir sehr gut geht, kann ich noch die orangefarbenen Haltestangen in den Gängen erkennen. Ansonsten sehe ich so gut wie nichts mehr; Sie sind für mich einfach ein grosser schwarzer Klecks. Meine Häkel- oder Strickarbeiten ertaste ich mit den Fingern.“ Dasselbe gilt für die gestanzten Ledergürtel und anderen handwerklichen Arbeiten, die sie im Bildungs- und Begegnungszentrum Dietikon anfertigt. In dieser Einrichtung des SBV, des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, steht das nötige Werkzeug zur Verfügung, und immer auch eine Fachperson, die Unterstützung bieten kann. Die Bilder, die Brigitta Käser malt, entstehen hingegen in ihrem Zimmer. Sie zeigt das fertige Gemälde einer Landschaft, fährt mit den Fingern über die raue Farbpaste und benennt die Blumenwiese, den Fluss, die Brücke. Auf einer kleinen Staffelei steht eine angefangene Bleistiftskizze. Mehrere Häuser sind zu erkennen, im Vordergrund ein Fels. „Ich zeichne so, wie ich die Dinge in Erinnerung habe aus der Zeit, als ich noch besser sehen konnte.“

Lebenslanges Lernen

Brigitta Käser wurde 1952 geboren und war schon als Kind stark sehbehindert. Als sie in die Schule kam, konnte sie auch aus der ersten Reihe das Geschriebene an der Wandtafel nicht mehr entziffern. Also versuchte sie, bei ihrer Banknachbarin abzuschreiben, so gut es eben ging. Aufgefallen ist das kaum. Denn Brigittas Vater pflegte so etwa jedes Dreivierteljahr den Wohnort und meistens auch den Kanton zu wechseln. Noch bevor eine Lehrperson auf die Sehschwäche des Kindes richtig aufmerksam werden konnte, war die Schülerin wieder weg. Auch die Eltern machten von dem Problem kein Aufhebens. Schliesslich sahen alle ihre vier Kinder schlecht und trugen Brillen, so wie sie selber auch. Und einen Beruf brauchte ein Mädchen ohnehin nicht zu erlernen, schliesslich würde es heiraten und Kinder kriegen.

Brigitta sah das anders. Sie wollte auf eigenen Füssen stehen und bewarb sich um eine Lehrstelle als Verkäuferin in der Migros. „Da war ich schon zwanzig Jahre alt und zum ersten Mal verheiratet“, erzählt sie. „Obwohl ich sehr schlecht sah – ich hatte 15 oder 16 Minus-Dioptrien und trug „Flaschenböden“ – gab man mir eine Chance. Das fand ich gut. Ich war vielleicht nicht die beste Lehrtochter, aber ich habe es geschafft.“ Damit liess sie es aber nicht bewenden, sondern machte eine ganze Reihe von Weiterbildungen, unter anderem ein Buchhaltungsdiplom und eine Ausbildung zur Bürofachfrau. Später gründete sie ein eigenes Reinigungsunternehmen. Erst im Jahre 2010 musste sie es aufgeben, nachdem sich bei ihr eine Makuladegeneration eingestellt hatte. Das ist eine altersbedingte Zerstörung derjenigen Stelle auf der Netzhaut, welche das scharfe Sehen ermöglicht.

Brigitta Käser ist stolz auf das, was sie gemacht hat. Als einmal eine IV-Angestellte bemerkte, sie habe aber an vielen Orten und in vielen Berufen gearbeitet, gab sie keck zur Antwort: „Seien Sie doch froh, dass Sie mich nicht schon viel länger unterstützen mussten!“ Vor einiger Zeit hat sie angefangen, die Braille-Schrift zu erlernen. Inzwischen beherrscht sie die Vollschrift, die Kurzschrift wird sie sich noch beibringen. Mit der sogenannten Braillezeile, einem elektronischen Gerät, das in die Handtasche passt, kann sie überall mitschreiben und das Geschriebene sofort Zeile für Zeile ertasten. Dank modernster Hilfsmittel stehen sehbehinderten Menschen viele Möglichkeiten offen. Dokumente lassen sich einscannen und werden vom Computer vorgelesen, genauso wie die E-Mails oder eine SMS auf dem i-Phone. Eine spezielle App kann sogar Farben erkennen; Brigitta Käser macht sich einen Spass daraus, herauszufinden, wie denn ihre Besucherin angezogen ist. Das i-Phone ist zudem eine wichtige Orientierungshilfe auf den ausgedehnten Spaziergängen, die sie mit ihrer Hündin Moana unternimmt. Vor allem aber ruft es umgehend ihre Tochter und ihre Enkelin an, sobald sie ihm den Sprachbefehl dazu erteilt.

„Als meine Tochter Sibylle schwanger war, wollte sie unbedingt, dass ich bei der Geburt dabei bin“, erzählt die stolze Grossmutter. „Das war am 1. Februar 2009. Sehen konnte ich es nicht mehr genau, aber ich war diejenige, welche das Neugeborene als erste in den Armen hielt und badete. Später hat die Kleine oft bei mir übernachtet, wenn meine Tochter Nachtschicht hatte;  damals wohnte ich noch in einer eigenen Wohnung. So konnte ich eine Superbeziehung zu meiner Enkelin aufbauben. Ich erkenne sie am Geruch und an der Art, wie sie mich umarmt. Céline hat früh gelernt, dass sie sich bei mir anders verhalten muss. So ist sie mir zum Beispiel nie davon gerannt, bei anderen Erwachsenen natürlich schon; sie weiss, dass ich sie nicht suchen kann. Wenn wir zu dritt einkaufen gingen, hat sie mich geführt und sich mit erhobenem Finger vor die anderen Leute hingestellt und gesagt: „Achtung! Grosi sieht nichts!“ Céline fühlt sich für ihre Grossmutter verantwortlich und nimmt Menschen mit Handicap anders wahr als Kinder, die noch nie mit Behinderten in Kontakt gekommen sind. Besonders stolz war sie schon von klein auf, wenn sie mit Grosi und der Führhündin Moana unterwegs sein durfte und dabei mit einer eigenen Leine mit dem Hund verbunden war - zum Erstaunen der Leute. Jetzt wohnt Tochter Sibylle mit ihrer Familie nicht mehr in der Nähe, aber der Kontakt ist rege und man besucht sich mindestens einmal im Monat. Dank ihrer Hündin ist Brigitta Käser unabhängig und kann reisen, wohin sie will.

Liebe auf den ersten Blick

Während des ganzen Gesprächs hat Moana in ihrem Korb gedöst und hin und wieder leise geseufzt. Sie kann ausspannen, sie ist jetzt nicht im Dienst. „Sobald ich ihr das Führgeschirr anziehe, sagt Brigitta Käser, „ist es als ob man einen Schalter umlegt. Sie gehorcht aufs Wort und führt alle Kommandos sofort aus. Nehme ich es ihr ab und lasse sie laufen, probiert sie schon mal aus, wie weit sie gehen kann und reagiert erst auf das zweite Rufen - wie ein Kind eben.“ Auch jetzt, wo sie im Blindenheim wohnt, kümmert sich Brigitta selbständig um ihren Hund, kauft sein Essen, füttert und bürstet ihn. Und nimmt auf der Strasse auch seine Exkremente auf; das hat sie im Einführungskurs gelernt. „Ich bin mit Schäferhunden gross geworden und habe mir immer gesagt: ‚Wenn ich einmal pensioniert bin, will ich wieder einen Hund.’ Damals konnte ich nicht ahnen, dass es einmal ein speziell ausgebildetes Tier sein würde. Als man mich von der Schule für Blindenführhunde anrief und mir mitteilte, es seien gleich zwei Hunde da, die für mich geeignet wären, da war ich mir sicher, dass ich den hellen Hund wählen würde. Aber dann sah ich Moana, und der Fall war klar.“ Frau Käser gebraucht oft das Wort ‚sehen’, obwohl sie so gut wie nichts sieht. „Das ist eine Redensart und hat nichts mit der Sehkraft zu tun“ erklärt sie. Es ist also kein Faux-pas, wenn man zu einer blinden Person „Auf Wiedersehen“ sagt.

Andererseits werden Sehbehinderte immer mal wieder mit der Gedankenlosigkeit der Sehenden konfrontiert. Brigitta Käser erinnert sich, wie eine Verkäuferin in einem Kleiderladen nur mit ihrer Freundin sprach, die sie begleitete und nicht mit ihr selbst. Als ob sie nicht in der Lage wäre, ihre Wünsche zu formulieren. In solchen Situationen pflegt sie dann kühl zu bemerken: „Wissen Sie, ich habe mein Augenlicht verloren, nicht meinen Verstand.“ Schwierig wird es manchmal auch, wenn Leute auf der Strasse oder im Tram den Hund anfassen oder ihn rufen. Dann muss Brigitta Käser deutlich machen, dass der Führhund am Arbeiten ist und nicht abgelenkt werden darf. Dies sollte man auch Kindern klar machen. Vor kurzem wurde Brigitta zusammen mit Moana eingeladen, in Célines Schulklasse über die Zusammenarbeit von Mensch und Hund zu berichten. „Meine Enkelin war natürlich stolz, dass ihr Grosi sie in der Schule besuchte. Sie erzählte mir hinterher, sie habe sich sehr zusammennehmen müssen, um nicht die Fragen ihrer Klassenkameraden gleich selber zu beantworten. Sie habe nämlich alles gewusst.“ Aufklärung tut not, denn noch immer sind viele Leute schlecht informiert über Sehbehinderte und ihre Hilfsmittel. So meinte mal einer, die Orientierungsstreifen am Boden seien für den Rollkoffer.

Gegenseitige Hilfe

„Meine Hündin spürt, wenn es mir nicht so gut geht“, erzählt Brigitta Käser. „Bin ich einmal niedergeschlagen, dann kommt sie, legt ihren Kopf in meinen Schoss und will gestreichelt werden. Zudem merkt sie, wenn ich kurz vor einem epileptischen Anfall stehe; ich bin nämlich Epileptikerin. Dann kommt sie und stupst mich, sodass ich mich hinlegen und den Anfall verhindern kann. Das ist einfach toll. Wahrscheinlich merkt sie es an einer Veränderung meines Körpergeruchs.“ Dass sie auch Hilfe von anderen Menschen annehmen sollte, müsse sie noch lernen, sagt Brigitta Käser. „Es fällt mir immer noch schwer, zu klingeln, wenn ich zum Beispiel ein Glas umgestossen habe und nicht weiss, wo ich überall putzen muss.“ Dass sich ihre Sehbehinderung über so viele Jahre hin entwickelt hat, empfindet Brigitta als grossen Vorteil. Im Gegensatz zu den Menschen, die erst im Alter erblinden und damit nur schwer zurecht kommen. Ihre Erfahrungen kann sie im Heimrat der Mühlehalde einbringen, wo sie sich gerne engagiert. Den Übertritt von der eigenen Wohnung ins Wohnheim für blinde und sehbehinderte Menschen hat Brigitta Käser noch keine Sekunde bereut. Wie sehr sie sich hier wohlfühlt, wird in der Cafeteria deutlich, wo bald ein gemischte Runde zusammensitzt und plaudert. Mit einer der Bewohnerinnen – sie wird dieses Jahr hundert Jahre alt – trifft sich Brigitta Käser regelmässig zum Jass. Die Jasskarten sind grösser und speziell gekennzeichnet, die Regeln sind dieselben.