Biografien Der schwarzweisse Indianer

Die Frage von Herkunft und Hautfarbe treibt Amerika seit seinen Anfängen um. Das zeigt sich beispielhaft an der Geschichte von Sylvester Long. Sie ist ein Lehrstück über absurde Rassenkonstruktionen.

In der Nacht auf den 20. März 1932 wurde in der Bibliothek der Anoakia-Ranch im kalifornischen Arcadia ein Mann tot aufgefunden. Er hatte eine Schusswunde am Kopf und hielt eine Pistole in der Hand; ob es wirklich Selbstmord war, wurde nie untersucht. Bei dem Toten handelte es sich um den 41-jährigen Sylvester Long, bekannt als Chief Buffalo Child Long Lance. Aufgewachsen als angeblicher Schwarzer im Süden der USA, wurde er im Tod wieder wie ein Schwarzer behandelt. Dazwischen lag eine beispiellose Karriere in der Welt der Weissen als Journalist, Bestsellerautor, Schauspieler und Indianerhäuptling. Sylvester Long war ein Leben lang bemüht, seine Herkunft zu vertuschen.

Geboren wurde er am 1. Dezember 1890 in Winston-Salem, North Carolina, als drittes Kind von Joseph und Sallie Long. Beide Eltern stammten mütterlicherseits von indianischen Sklavinnen ab und wurden ebenfalls als Sklaven geboren. Ihre männlichen Vorfahren waren Weisse; Sallies Grossvater war der Plantagenbesitzer und Sklavenhändler Robert Carson, ihr Vater der Nachbar und spätere Senator Andrew Cowles. Weil sie zusammen mit den schwarzen Sklaven auf Carsons Plantage aufgewachsen war, galt sie ebenfalls als schwarz. Nach ihrer Heirat zogen Sallie und Joseph ins moderne Winston-Salem und lebten dort als Weisse. Nachdem jedoch ihre Herkunft bekannt geworden war, galten sie erneut als Schwarze, was angesichts der Rassentrennungsgesetze grosse Einschränkungen mit sich brachte. Joseph konnte zwar seine Stelle als Abwart in einer weissen Schule behalten, seinen Kinder war der Zugang dort jedoch verwehrt. Die Eltern, beide gläubige Baptisten, akzeptierten ihr Schicksal und erzogen ihre Kinder Abe, Walter und Katie als Schwarze. Nur der dritte Sohn, Sylvester, wollte sich nicht damit abfinden.

Militär als Chance

Mit neunzehn Jahren, gefälschten Papieren und ein paar Brocken Cherokee erschwindelte sich Sylvester Long die Aufnahme in die Carlisle Indian Residential School. Die militärisch organisierte Institution wollte indianischen Kindern ein Leben als Weisse ermöglichen. Dafür mussten sie Stammeskleidung, Haartracht, Sprache und vor allem die indianische Identität ablegen. Sylvester Long, von seiner Abstammung her höchstens zu drei Achteln indianisch, wollte hingegen ein ganzer Indianer werden. Unter seinen Mitschülern kursierten bald Gerüchte um eine schwarze Herkunft. Deshalb wandelte einer der Lehrer den Namen Long ins indianischer klingende „Long Lance“ ab.

Sylvester war ein guter Schüler, tat sich im Sport hervor, spielte Klarinette in der Schulband und schrieb für die Schülerzeitung. Den Namen „Long Lance“, sollte er sein Leben lang behalten. Nach Carlisle besuchte er die St. John’s Military Academy im Staate New York und bewarb sich an der berühmten Militärakademie West Point. Zu Longs Zeiten nahm die Institution – in den Worten Philip Roths: das “Mark des unzerbrechlichen Rückgrats des Landes“ – ausschliesslich weisse Männer auf. Aber Long schrieb 1914 an den damaligen Präsidenten Woodrow Wilson, gab sich als halben Cherokee aus und bat um Aufnahme. Er wurde zu den Prüfungen zugelassen, was einer Sensation gleichkam und ihn ein erstes Mal in die Zeitungen brachte. Die „Washington Post“ machte ihn gleich zum Vollblutindianer. Die Prüfungen schaffte Long nicht oder wollte sie nicht schaffen, aus Angst, enttarnt zu werden. Er ging nach Montreal und meldete sich bei der kanadischen Armee.

Anders als die USA, die erst 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten, hatte das noch nicht unabhängige Kanada Grossbritannien von Anfang an unterstützt. Sylvester Long wurde im Winter 1916 in Europa stationiert. Zum Jahresende schickte er eine Neujahrskarte an die Carlisle Indian Residential School, unterzeichnet mit „Lieutenant Long Lance“. Darauf schilderte er in einem Gedicht den Kampf in den Schützengräben. Die hatte er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennen gelernt, und er war auch nicht Leutnant, sondern Gefreiter. Die Schulleitung jedoch betrachtete den Neujahrsgruss als willkommene Werbung und sandte die Karte an die Presse. Die „New York Sun“ titelte: „Indianer kämpft für die Alliierten“.

Chief Buffalo Child

Nach dem Krieg ging Long Lance nach Kanada - möglichst weit weg von Winston-Salem - und fand eine Anstellung als Sport-Reporter beim “Calgary Herald“. Seiner Leserschaft stellte er sich als Kriegsveteran vor, der in Europa gekämpft hatte und mit dem „Croix de Guerre“ ausgezeichnet worden war. Geboren sei er in Oklahoma. Niemand überprüfte die Angaben. Bilder aus jener Zeit zeigen einen gut aussehenden, kräftigen Mann im sportlich-eleganten Tweed-Anzug. Als der Boxer und Weltmeister aller Klassen, Jack Dempsey, nach Calgary kam, machte er nicht nur ein Interview mit ihm, sondern kämpfte auch gegen ihn. Dempsey hatte ebenfalls indianische Vorfahren und Long Lance liess keine Gelegenheit aus, seine Cherokee-Abkunft zu betonen. Bald war er überall der „Chief“, der exotische Vorzeige-Indianer. Viele weisse Frauen waren fasziniert von ihm, aber keine hätte ihn geheiratet. Ebenso wenig eine indianische Frau. Die Ureinwohner, die Long als Reporter in den Reservaten besuchte, misstrauten ihm. Obwohl er sich für sie einsetzte, war er keiner von ihnen. Umso mehr wollte er dazu gehören.

Samuel H. Middleton, mit dem Long sich angefreundet hatte, war Schulleiter im Reservat der kanadischen Blutindianer. Er zeigte Verständnis für Longs Sehnsucht und sah stets grosszügig über alle Unstimmigkeiten in seiner Biographie hinweg. Anlässlich eines Schülertreffens, bei dem Long eine Rede hielt, bat Middleton einen alten Blutindianer, den Gast in seinen Stamm aufzunehmen. In einer feierlichen Zeremonie erhielt er den Namen des verstorbenen Kriegers Buffalo Child. Es war ein symbolischer Akt, der auch schon dem Prinzen von Wales zuteil geworden war und der nicht viel bedeutete. Für Long war es heiliger Ernst. Als Buffalo Child Long Lance prangerte er nun erst recht die Missstände in den Reservaten an und kritisierte das Büro für indianische Angelegenheiten. Gleichzeitig erlaubte er sich allerlei Blödsinn. So liess er im Büro des Bürgermeisters von Calgary eine Bombenattrappe platzen, was ihn seinen Job beim „Herald“ kostete. Er begann Vorträge über indianische Stämme zu halten.

In den Zwanzigerjahren strömten europäische Einwanderer zu Tausenden nach Kanada und in die USA. Sie bildeten ein dankbares Publikum für Chief Buffalo Child Long Lance und seine Geschichten über die Ureinwohner. Dass dieser Chief auf manchen Fotos eine Perücke trug und sein Kostüm ein wilder Mix aus verschiedenen Stammesbekleidungen war, merkten sie nicht. Die Indianer merkten es umso deutlicher. Long Lance riskierte viel. Unbekümmert machte er sich selbst vom Blut- zum Schwarzfuss-Indianer. Dabei konnte sich jederzeit herausstellen, dass er keinem Stamm angehörte und kein Häuptling war. Noch mehr aber musste er befürchten, als das entlarvt zu werden, was er noch weniger war: ein Schwarzer. Seine Popularität nahm ständig zu. Er wurde Chef der indianischen Delegation an der „Calgary Stampede“, einem Volksfest mit Rodeo und Indianertänzen, das bis heute stattfindet. Ab 1924 war er Public Relations-Verantwortlicher im luxuriösen „Banff Springs Hotel“ und verblüffte als kultivierter „Wilder“ die reichen weissen Gäste mit seinen Manieren und seinem Wissen. In New York wurde Long Lance zum Salonlöwen, umgab sich mit Schauspielerinnen und Operndiven und füllte die Klatschkolumnen. 1928 brachte Cosmopolitain-Books seine „Autobiografie“ heraus, in welcher er die Kindheitserinnerungen eines indianischen Freundes als seine eigenen ausgab. Die erste Auflage von zehntausend Exemplaren war sofort ausverkauft. Zu einer zweiten kam es in den USA nicht mehr, nachdem der Präsident des Büros für indianische Angelegenheiten die Geschichte als „fiction“ bezeichnet hatte. Die deutsche Fassung „Häuptling Büffelkind Langspeer erzählt sein Leben“ erscheint dagegen noch heute.

„The Silent Enemy“

Der Stamm der Ojiba im nordwestlichen Kanada ist von einer Hungersnot bedroht und versucht, eine Caribou-Herde aufzustöbern. Dies gelingt dem jungen Baluk, er wird aber von seinem Gegenspieler Dagwan bedrängt, der ebenfalls die Häuptlingstochter Neewa begehrt. Das ist die Geschichte des Films „The Silent Enemy“ – mit dem „lautlosen Feind“ ist schlicht der Hunger gemeint. Die Darsteller waren grösstenteils Angehörige des Ojiba-Stammes, den Häuptling spielte „Chauncey Yellow Robe“, ein Grossneffe des legendären Sioux-Häuptlings „Sitting Bull“. Für den Helden Baluk wurde Chief Buffalo Child Long Lance engagiert. Dieser war froh, sich in die Wälder Kanadas flüchten zu können, da in New York inzwischen Zweifel an seiner Identität aufgekommen waren. Bei den Dreharbeiten schöpfte der alte Yellow Robe ebenfalls Verdacht. Daraufhin zog die Filmgesellschaft Erkundigungen ein; man fürchtete um die grosse Werbekampagne für „The Silent Enemy“, in welcher Long Lance als Vollblut-Indianer ausgegeben werden sollte. Eines Tages bestellte der juristische Berater der Gesellschaft den Darsteller in sein Büro und begrüsste ihn mit den Worten: „Hello Sylvester!“ Man hatte seine Spur zurückverfolgt bis nach Winston-Salem, wo er als Sylvester Long in eine Familie hineingeboren worden war, die als schwarz galt.

Noch einmal versuchte er sich mit neuen Geschichten aus der Affäre zu ziehen, aber schliesslich vertraute er sich Chauncey Yellow Robe an und erzählte ihm die Wahrheit. Der alte Sioux-Indianer zeigte nicht nur Verständnis sondern auch Bewunderung für einen, der versucht hatte, die Rassenschranken zu überwinden. Den meisten Leuten genügten die Gerüchte um eine schwarze Herkunft, um Long Lance fallen zu lassen. Der Schriftsteller Irvin S. Cobb, der sich in seinem Haus gern mit dem „Häuptling“ geschmückt hatte, gestand gegenüber einem Freund: „We're so ashamed. We entertained a nigger ...!".

Doch noch einmal nahm die Geschichte eine eigentümliche Wendung: Chauncey Yellow Robe erkrankte und die Filmfirma musste Long Lance auf Werbetour schicken. Am 19. Mai 1930 hatte „The Silent Enemy im „Criterion“ am Times Square Premiere und wurde sehr gut aufgenommen. Die Kritiker lobten besonders den Darsteller des Baluk. Für diesen wurde die Werbetour zu einem letzten grossen Feuerwerk. In Hollywood traf er Stars wie Douglas Fairbanks, Harold Lloyd oder Charlie Chaplin. Auf einer Party lernte er die Millionenerbin Anita Baldwin kennen; sie stellte ihn als Sekretär und Bodyguard ein und nahm ihn mit auf eine längere Europa-Reise. Dabei kam es zu Zwischenfällen. Long Lance, der abstinente Sportler, hatte zu trinken angefangen, war aggressiv und unberechenbar geworden.

Zehn Tage nach seinem gewaltsamen Tod auf Anitas Ranch wurde Sylvester Long von Mitgliedern der British Benevolent Society in der Abteilung für Britische Kriegsveteranen auf dem Inglewood Friedhof von Los Angeles begraben. Der Familie hatte das Geld gefehlt, um den Leichnam nach Hause zu holen.

Erschienen im "Tages-Anzeiger" am 13.1.2015

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Die Frage von Herkunft und Hautfarbe treibt Amerika seit seinen Anfängen um. Das zeigt sich beispielhaft an der Geschichte von Sylvester Long. Sie ist ein Lehrstück über absurde Rassenkonstruktionen.

In der Nacht auf den 20. März 1932 wurde in der Bibliothek der Anoakia-Ranch im kalifornischen Arcadia ein Mann tot aufgefunden. Er hatte eine Schusswunde am Kopf und hielt eine Pistole in der Hand; ob es wirklich Selbstmord war, wurde nie untersucht. Bei dem Toten handelte es sich um den 41-jährigen Sylvester Long, bekannt als Chief Buffalo Child Long Lance. Aufgewachsen als angeblicher Schwarzer im Süden der USA, wurde er im Tod wieder wie ein Schwarzer behandelt. Dazwischen lag eine beispiellose Karriere in der Welt der Weissen als Journalist, Bestsellerautor, Schauspieler und Indianerhäuptling. Sylvester Long war ein Leben lang bemüht, seine Herkunft zu vertuschen.

Geboren wurde er am 1. Dezember 1890 in Winston-Salem, North Carolina, als drittes Kind von Joseph und Sallie Long. Beide Eltern stammten mütterlicherseits von indianischen Sklavinnen ab und wurden ebenfalls als Sklaven geboren. Ihre männlichen Vorfahren waren Weisse; Sallies Grossvater war der Plantagenbesitzer und Sklavenhändler Robert Carson, ihr Vater der Nachbar und spätere Senator Andrew Cowles. Weil sie zusammen mit den schwarzen Sklaven auf Carsons Plantage aufgewachsen war, galt sie ebenfalls als schwarz. Nach ihrer Heirat zogen Sallie und Joseph ins moderne Winston-Salem und lebten dort als Weisse. Nachdem jedoch ihre Herkunft bekannt geworden war, galten sie erneut als Schwarze, was angesichts der Rassentrennungsgesetze grosse Einschränkungen mit sich brachte. Joseph konnte zwar seine Stelle als Abwart in einer weissen Schule behalten, seinen Kinder war der Zugang dort jedoch verwehrt. Die Eltern, beide gläubige Baptisten, akzeptierten ihr Schicksal und erzogen ihre Kinder Abe, Walter und Katie als Schwarze. Nur der dritte Sohn, Sylvester, wollte sich nicht damit abfinden.

Militär als Chance

Mit neunzehn Jahren, gefälschten Papieren und ein paar Brocken Cherokee erschwindelte sich Sylvester Long die Aufnahme in die Carlisle Indian Residential School. Die militärisch organisierte Institution wollte indianischen Kindern ein Leben als Weisse ermöglichen. Dafür mussten sie Stammeskleidung, Haartracht, Sprache und vor allem die indianische Identität ablegen. Sylvester Long, von seiner Abstammung her höchstens zu drei Achteln indianisch, wollte hingegen ein ganzer Indianer werden. Unter seinen Mitschülern kursierten bald Gerüchte um eine schwarze Herkunft. Deshalb wandelte einer der Lehrer den Namen Long ins indianischer klingende „Long Lance“ ab.

Sylvester war ein guter Schüler, tat sich im Sport hervor, spielte Klarinette in der Schulband und schrieb für die Schülerzeitung. Den Namen „Long Lance“, sollte er sein Leben lang behalten. Nach Carlisle besuchte er die St. John’s Military Academy im Staate New York und bewarb sich an der berühmten Militärakademie West Point. Zu Longs Zeiten nahm die Institution – in den Worten Philip Roths: das “Mark des unzerbrechlichen Rückgrats des Landes“ – ausschliesslich weisse Männer auf. Aber Long schrieb 1914 an den damaligen Präsidenten Woodrow Wilson, gab sich als halben Cherokee aus und bat um Aufnahme. Er wurde zu den Prüfungen zugelassen, was einer Sensation gleichkam und ihn ein erstes Mal in die Zeitungen brachte. Die „Washington Post“ machte ihn gleich zum Vollblutindianer. Die Prüfungen schaffte Long nicht oder wollte sie nicht schaffen, aus Angst, enttarnt zu werden. Er ging nach Montreal und meldete sich bei der kanadischen Armee.

Anders als die USA, die erst 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten, hatte das noch nicht unabhängige Kanada Grossbritannien von Anfang an unterstützt. Sylvester Long wurde im Winter 1916 in Europa stationiert. Zum Jahresende schickte er eine Neujahrskarte an die Carlisle Indian Residential School, unterzeichnet mit „Lieutenant Long Lance“. Darauf schilderte er in einem Gedicht den Kampf in den Schützengräben. Die hatte er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennen gelernt, und er war auch nicht Leutnant, sondern Gefreiter. Die Schulleitung jedoch betrachtete den Neujahrsgruss als willkommene Werbung und sandte die Karte an die Presse. Die „New York Sun“ titelte: „Indianer kämpft für die Alliierten“.

Chief Buffalo Child

Nach dem Krieg ging Long Lance nach Kanada - möglichst weit weg von Winston-Salem - und fand eine Anstellung als Sport-Reporter beim “Calgary Herald“. Seiner Leserschaft stellte er sich als Kriegsveteran vor, der in Europa gekämpft hatte und mit dem „Croix de Guerre“ ausgezeichnet worden war. Geboren sei er in Oklahoma. Niemand überprüfte die Angaben. Bilder aus jener Zeit zeigen einen gut aussehenden, kräftigen Mann im sportlich-eleganten Tweed-Anzug. Als der Boxer und Weltmeister aller Klassen, Jack Dempsey, nach Calgary kam, machte er nicht nur ein Interview mit ihm, sondern kämpfte auch gegen ihn. Dempsey hatte ebenfalls indianische Vorfahren und Long Lance liess keine Gelegenheit aus, seine Cherokee-Abkunft zu betonen. Bald war er überall der „Chief“, der exotische Vorzeige-Indianer. Viele weisse Frauen waren fasziniert von ihm, aber keine hätte ihn geheiratet. Ebenso wenig eine indianische Frau. Die Ureinwohner, die Long als Reporter in den Reservaten besuchte, misstrauten ihm. Obwohl er sich für sie einsetzte, war er keiner von ihnen. Umso mehr wollte er dazu gehören.

Samuel H. Middleton, mit dem Long sich angefreundet hatte, war Schulleiter im Reservat der kanadischen Blutindianer. Er zeigte Verständnis für Longs Sehnsucht und sah stets grosszügig über alle Unstimmigkeiten in seiner Biographie hinweg. Anlässlich eines Schülertreffens, bei dem Long eine Rede hielt, bat Middleton einen alten Blutindianer, den Gast in seinen Stamm aufzunehmen. In einer feierlichen Zeremonie erhielt er den Namen des verstorbenen Kriegers Buffalo Child. Es war ein symbolischer Akt, der auch schon dem Prinzen von Wales zuteil geworden war und der nicht viel bedeutete. Für Long war es heiliger Ernst. Als Buffalo Child Long Lance prangerte er nun erst recht die Missstände in den Reservaten an und kritisierte das Büro für indianische Angelegenheiten. Gleichzeitig erlaubte er sich allerlei Blödsinn. So liess er im Büro des Bürgermeisters von Calgary eine Bombenattrappe platzen, was ihn seinen Job beim „Herald“ kostete. Er begann Vorträge über indianische Stämme zu halten.

In den Zwanzigerjahren strömten europäische Einwanderer zu Tausenden nach Kanada und in die USA. Sie bildeten ein dankbares Publikum für Chief Buffalo Child Long Lance und seine Geschichten über die Ureinwohner. Dass dieser Chief auf manchen Fotos eine Perücke trug und sein Kostüm ein wilder Mix aus verschiedenen Stammesbekleidungen war, merkten sie nicht. Die Indianer merkten es umso deutlicher. Long Lance riskierte viel. Unbekümmert machte er sich selbst vom Blut- zum Schwarzfuss-Indianer. Dabei konnte sich jederzeit herausstellen, dass er keinem Stamm angehörte und kein Häuptling war. Noch mehr aber musste er befürchten, als das entlarvt zu werden, was er noch weniger war: ein Schwarzer. Seine Popularität nahm ständig zu. Er wurde Chef der indianischen Delegation an der „Calgary Stampede“, einem Volksfest mit Rodeo und Indianertänzen, das bis heute stattfindet. Ab 1924 war er Public Relations-Verantwortlicher im luxuriösen „Banff Springs Hotel“ und verblüffte als kultivierter „Wilder“ die reichen weissen Gäste mit seinen Manieren und seinem Wissen. In New York wurde Long Lance zum Salonlöwen, umgab sich mit Schauspielerinnen und Operndiven und füllte die Klatschkolumnen. 1928 brachte Cosmopolitain-Books seine „Autobiografie“ heraus, in welcher er die Kindheitserinnerungen eines indianischen Freundes als seine eigenen ausgab. Die erste Auflage von zehntausend Exemplaren war sofort ausverkauft. Zu einer zweiten kam es in den USA nicht mehr, nachdem der Präsident des Büros für indianische Angelegenheiten die Geschichte als „fiction“ bezeichnet hatte. Die deutsche Fassung „Häuptling Büffelkind Langspeer erzählt sein Leben“ erscheint dagegen noch heute.

„The Silent Enemy“

Der Stamm der Ojiba im nordwestlichen Kanada ist von einer Hungersnot bedroht und versucht, eine Caribou-Herde aufzustöbern. Dies gelingt dem jungen Baluk, er wird aber von seinem Gegenspieler Dagwan bedrängt, der ebenfalls die Häuptlingstochter Neewa begehrt. Das ist die Geschichte des Films „The Silent Enemy“ – mit dem „lautlosen Feind“ ist schlicht der Hunger gemeint. Die Darsteller waren grösstenteils Angehörige des Ojiba-Stammes, den Häuptling spielte „Chauncey Yellow Robe“, ein Grossneffe des legendären Sioux-Häuptlings „Sitting Bull“. Für den Helden Baluk wurde Chief Buffalo Child Long Lance engagiert. Dieser war froh, sich in die Wälder Kanadas flüchten zu können, da in New York inzwischen Zweifel an seiner Identität aufgekommen waren. Bei den Dreharbeiten schöpfte der alte Yellow Robe ebenfalls Verdacht. Daraufhin zog die Filmgesellschaft Erkundigungen ein; man fürchtete um die grosse Werbekampagne für „The Silent Enemy“, in welcher Long Lance als Vollblut-Indianer ausgegeben werden sollte. Eines Tages bestellte der juristische Berater der Gesellschaft den Darsteller in sein Büro und begrüsste ihn mit den Worten: „Hello Sylvester!“ Man hatte seine Spur zurückverfolgt bis nach Winston-Salem, wo er als Sylvester Long in eine Familie hineingeboren worden war, die als schwarz galt.

Noch einmal versuchte er sich mit neuen Geschichten aus der Affäre zu ziehen, aber schliesslich vertraute er sich Chauncey Yellow Robe an und erzählte ihm die Wahrheit. Der alte Sioux-Indianer zeigte nicht nur Verständnis sondern auch Bewunderung für einen, der versucht hatte, die Rassenschranken zu überwinden. Den meisten Leuten genügten die Gerüchte um eine schwarze Herkunft, um Long Lance fallen zu lassen. Der Schriftsteller Irvin S. Cobb, der sich in seinem Haus gern mit dem „Häuptling“ geschmückt hatte, gestand gegenüber einem Freund: „We're so ashamed. We entertained a nigger ...!".

Doch noch einmal nahm die Geschichte eine eigentümliche Wendung: Chauncey Yellow Robe erkrankte und die Filmfirma musste Long Lance auf Werbetour schicken. Am 19. Mai 1930 hatte „The Silent Enemy im „Criterion“ am Times Square Premiere und wurde sehr gut aufgenommen. Die Kritiker lobten besonders den Darsteller des Baluk. Für diesen wurde die Werbetour zu einem letzten grossen Feuerwerk. In Hollywood traf er Stars wie Douglas Fairbanks, Harold Lloyd oder Charlie Chaplin. Auf einer Party lernte er die Millionenerbin Anita Baldwin kennen; sie stellte ihn als Sekretär und Bodyguard ein und nahm ihn mit auf eine längere Europa-Reise. Dabei kam es zu Zwischenfällen. Long Lance, der abstinente Sportler, hatte zu trinken angefangen, war aggressiv und unberechenbar geworden.

Zehn Tage nach seinem gewaltsamen Tod auf Anitas Ranch wurde Sylvester Long von Mitgliedern der British Benevolent Society in der Abteilung für Britische Kriegsveteranen auf dem Inglewood Friedhof von Los Angeles begraben. Der Familie hatte das Geld gefehlt, um den Leichnam nach Hause zu holen.

Erschienen im "Tages-Anzeiger" am 13.1.2015

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