Geht. Geht nicht.

8. August 2024

«Das sind doch keine Ferien, wenn man treten muss», sagte meine Mutter verächtlich, als ich mich in die Veloferien verabschiedete. Was hätte sie erst gesagt, wenn ich mich wandernd auf einen Pilgerweg begeben hätte? In ihren Augen war Gehen oder motorloses Fahren etwas für Minderbemittelte. Und sie hatte doch so sehr gehofft, ihre Tochter würde es einmal besser haben.

Dem französischen Soziologen Benoît Coquard ist bei seinen Untersuchungen aufgefallen, dass gerade in den als abgehängt geltenden Gegenden Frankreichs niemand im Ort zu Fuss unterwegs ist, um nicht als Sozialfall zu gelten. Wer sich kein Auto leisten kann, ist ganz unten gelandet, und beim Gehen macht man keinen erhabenen Eindruck. Darum ritten Herrscher auf Elefanten und Kamelen oder lassen noch heute ihre Karossen von möglichst vielen Pferden ziehen.

Gehen wird aber auch als Provokation empfunden. Der Schriftsteller Wolfgang Büscher, der zu Fuss von Kanada nach Mexiko gewandert ist, wurde immer mal wieder von Automobilisten beschimpft und aufgefordert, sich ein Auto zu beschaffen. Sie ertrugen es nicht, dass sich da einer im Free Country die Freiheit nahm, einfach zu gehen, unabhängig von PS und Zapfsäule. Einer, der Strapazen und Risiken auf sich nahm und sich als der harte Mann erwies, den sie in ihren Hunters und Cherokee Chiefs zu sein vorgaben.

Dass die Fortbewegung auf eigenen Beinen einen gesundheitsfördernden Aspekt haben könnte, darauf wäre ich nie gekommen - kein Wunder bei meiner Erziehung. Darum horchte ich auf, als der Yogalehrer die positive Wirkung auf die Wirbelsäule pries. Er sprach, wenn ich mich recht erinnere, von einer leichten mobilisierenden Rotation. Von Joggen hatte er nichts gesagt. Das erstaunt mich nicht angesichts der Menschen, die einem täglich entgegenkeuchen - Körperhaltung zweifelhaft, Fussstellung zum Davonlaufen. Ganz zu schweigen von den bedrohlich schwingenden Büsen und schwappenden Bäuchen, denen man ein besser kaschierendes Textil wünscht.

Kinder mit Rädchen

Ganz allgemein wird Gehen in der Stadt nur widerwillig praktiziert. Wer nicht per Bike ahnungslose Passantinnen aufscheucht, setzt aufs E-Trottinett. Oder besser: steht darauf wie eine Statue, die das Kulturamt an einen anderen Platz verschieben will.

In meiner Kinderzeit waren Dreirad, Trottinett und Velo bereits erfunden, aber wir benutzten sie nur, wenn wir unter uns waren. Nie hätten es unsere Mütter zugelassen, dass wir den fahrbaren Untersatz zum Einkaufen oder zum Tee bei der Tante mitnahmen. Heute fragt man sich, warum Kinder überhaupt noch laufen lernen, wo sie es doch kaum brauchen. Schliesslich gibt es Laufrädchen quasi ab Geburt, und die müssen mit ins Tram und im Supermarkt auf die Rolltreppe. Aber welcher dauergestresste Elternteil kann sich heute noch den kurzen Schritten seines Kindes anpassen? Und selbst wenn das Kind gerne geht, am liebsten natürlich ohne Aufsicht, lässt man es nicht. Viel zu gefährlich.

Britische Forscher haben die Bewegungsfreiheit von Kindern anhand von vier Generationen einer Familie untersucht. Während der Urgrossvater in den Dreissigerjahren noch etwa 9 Kilometer im Umkreis herumstreifen durfte und konnte, verbleiben dem Urenkel gerade noch 360 Meter.

Aktuelles Geht. Geht nicht.

8. August 2024

«Das sind doch keine Ferien, wenn man treten muss», sagte meine Mutter verächtlich, als ich mich in die Veloferien verabschiedete. Was hätte sie erst gesagt, wenn ich mich wandernd auf einen Pilgerweg begeben hätte? In ihren Augen war Gehen oder motorloses Fahren etwas für Minderbemittelte. Und sie hatte doch so sehr gehofft, ihre Tochter würde es einmal besser haben.

Dem französischen Soziologen Benoît Coquard ist bei seinen Untersuchungen aufgefallen, dass gerade in den als abgehängt geltenden Gegenden Frankreichs niemand im Ort zu Fuss unterwegs ist, um nicht als Sozialfall zu gelten. Wer sich kein Auto leisten kann, ist ganz unten gelandet, und beim Gehen macht man keinen erhabenen Eindruck. Darum ritten Herrscher auf Elefanten und Kamelen oder lassen noch heute ihre Karossen von möglichst vielen Pferden ziehen.

Gehen wird aber auch als Provokation empfunden. Der Schriftsteller Wolfgang Büscher, der zu Fuss von Kanada nach Mexiko gewandert ist, wurde immer mal wieder von Automobilisten beschimpft und aufgefordert, sich ein Auto zu beschaffen. Sie ertrugen es nicht, dass sich da einer im Free Country die Freiheit nahm, einfach zu gehen, unabhängig von PS und Zapfsäule. Einer, der Strapazen und Risiken auf sich nahm und sich als der harte Mann erwies, den sie in ihren Hunters und Cherokee Chiefs zu sein vorgaben.

Dass die Fortbewegung auf eigenen Beinen einen gesundheitsfördernden Aspekt haben könnte, darauf wäre ich nie gekommen - kein Wunder bei meiner Erziehung. Darum horchte ich auf, als der Yogalehrer die positive Wirkung auf die Wirbelsäule pries. Er sprach, wenn ich mich recht erinnere, von einer leichten mobilisierenden Rotation. Von Joggen hatte er nichts gesagt. Das erstaunt mich nicht angesichts der Menschen, die einem täglich entgegenkeuchen - Körperhaltung zweifelhaft, Fussstellung zum Davonlaufen. Ganz zu schweigen von den bedrohlich schwingenden Büsen und schwappenden Bäuchen, denen man ein besser kaschierendes Textil wünscht.

Kinder mit Rädchen

Ganz allgemein wird Gehen in der Stadt nur widerwillig praktiziert. Wer nicht per Bike ahnungslose Passantinnen aufscheucht, setzt aufs E-Trottinett. Oder besser: steht darauf wie eine Statue, die das Kulturamt an einen anderen Platz verschieben will.

In meiner Kinderzeit waren Dreirad, Trottinett und Velo bereits erfunden, aber wir benutzten sie nur, wenn wir unter uns waren. Nie hätten es unsere Mütter zugelassen, dass wir den fahrbaren Untersatz zum Einkaufen oder zum Tee bei der Tante mitnahmen. Heute fragt man sich, warum Kinder überhaupt noch laufen lernen, wo sie es doch kaum brauchen. Schliesslich gibt es Laufrädchen quasi ab Geburt, und die müssen mit ins Tram und im Supermarkt auf die Rolltreppe. Aber welcher dauergestresste Elternteil kann sich heute noch den kurzen Schritten seines Kindes anpassen? Und selbst wenn das Kind gerne geht, am liebsten natürlich ohne Aufsicht, lässt man es nicht. Viel zu gefährlich.

Britische Forscher haben die Bewegungsfreiheit von Kindern anhand von vier Generationen einer Familie untersucht. Während der Urgrossvater in den Dreissigerjahren noch etwa 9 Kilometer im Umkreis herumstreifen durfte und konnte, verbleiben dem Urenkel gerade noch 360 Meter.