Gesellschaft Geschichte des Strickens
Von der Bürde zum Boom
Der Strickfaden reicht weit zurück
Jahrzehntelang bedeutete ‚handgestrickt’ soviel wie bieder, brav und hausbacken. Jetzt hat eine neue Generation von Frauen das Strickheft in die Hand genommen. Freiwillig, mit Vergnügen und mit nie dagewesen Möglichkeiten.
Die ersten, die den Trend wohltuend zu spüren bekamen, waren die Inhaberinnen von Strickläden. „Auf dem Tiefpunkt, vor rund zwanzig Jahren, wollte keine junge Frau mit Strickzeug ertappt werden“, erzählt Marianne Eberle von Hand-Art in Zürich. „Jetzt ist es genau umgekehrt. Wer stricken kann, wird bewundert.“ Dazu hat die Mode ihren Teil beigetragen, aber auch die Industrie. Früher war es beispielsweise technisch unmöglich, extrem dicke und gleichzeitig leichte Wollgarne herzustellen. Dem kann Eva Grimmer von der Zürcher Firma Vilfil nur zustimmen. Sie macht seit einigen Jahren noch eine weitere erfreuliche Beobachtung: „Qualität ist auch bei ganz jungen Frauen wieder ein Thema. Sie regen sich auf, wenn das schicke Teil aus dem Billigladen nach zweimaligem Waschen aus der Form gegangen ist. Da strickt man es lieber gleich selber und hat erst noch die grössere Farbauswahl.“ Es ist nicht der Schulunterricht, wirtschaftliche Not oder Langeweile, die heutige Frauen zum Stricken zwingen, sondern ein neu entdeckter Spass am Spiel mit Farben, Formen und Materialien. Aber was ist Stricken eigentlich?
Die Idee ist genial einfach
Ein einzelner Faden wird so mit sich selbst verschlungen, dass daraus eine Fläche oder ein Schlauch entsteht. Das ist zwar auch beim Häkeln der Fall, aber Gehäkeltes ist längst nicht so vielseitig verwendbar. Und im Gegensatz zu Geknüpftem lässt sich Gestricktes im Handumdrehen wieder aufdröseln. Darauf musste erst mal jemand kommen.
Wie beim Weben führen auch beim Stricken die verschiedensten Wege zum Ziel. Wie man die Nadeln hält, welche Hand die Wolle führt, wie die Maschen hergestellt werden, das ist von Land zu Land verschieden. Das Resultat ist immer gleich. Muster und Farbkombinationen hingegen wurden in jedem Teil der Welt wieder neu erfunden. Wer zuerst mit Stricken anfing, lässt sich nicht mehr feststellen.
Sargkissen und Hinrichtungshemden
Textilien halten nicht so lang wie Tonscherben, darum stösst man bei Ausgrabungen selten auf Gestricktes. Zwar hat man in einem ägyptischen Grab die Überreste von Socken gefunden, die aus dem 5. Jahrhundert stammen. Ihr Bild fehlt in keiner Strickgeschichte, aber eigentlich sind sie in Nadelbindung hergestellt, einer alten Knüpftechnik.
Im Mittelalter wurde aber mit Sicherheit schon gestrickt. Zu den bedeutendsten Funden gehören Sargkissen für spanische Infanten. Diese Kissenbezüge mit ihren aufwändigen Mustern sind, mit 80 Maschen auf 10 cm, äusserst fein gearbeitet.
Die Pullover und Matrosenmützen, deren Überreste aus der 1545 gesunkenen „Mary Rose“ geborgen werden konnten, waren dagegen viel gröber gearbeitet. Feine Strickwaren blieben lange den feinen Leuten vorbehalten – bis zum unfeinen Ende. King Charles I trug zu seiner Enthauptung 1649 ein himmelblaues Seidenhemd (85 Maschen auf 10 cm). Es ist bestens erhalten, wenn auch arg befleckt. Auch Mary Stuart Queen of Scots tat ihren letzten Gang in feinen handgestrickten Strümpfen.
Der Draht zum Stricken
Auch wer es nur bis zum Topflappen gebracht hat, weiss wie wichtig die richtigen Nadeln sind. Ob aus Kunststoff, Holz oder Metall, Strickwerkzeug muss glatt und gerade sein. Solche Nadeln konnte man erst ab dem 16. Jahrhundert herstellen, als man es verstand, Draht zu ziehen. Die glänzenden Metallfäden waren eine derartige Sensation, dass Frauenhaar in Liebesgedichten mit feinem Draht verglichen wurde.
Als dann die Nadeln ungehindert klappern konnten, war kein Halten mehr. Jetzt gings ans Strümpfestricken, vor allem in England. Das Land mit den vielen Schafen, bekannt für gute Wollstoffe, wurde nun auch zum Strickwarenland. Ende des 16. Jahrhunderts produzierte es jährlich gegen 20 Millionen Paar Strickstrümpfe und exportierte sie bis nach Spanien, Deutschland, Holland und Italien. Aber was trug man eigentlich an den Beinen bevor es Strümpfe gab?
Die bunten Strumpfhosen, die mittelalterliche Höflinge auf alten Bilder anhaben, sind nicht gestrickt, sondern gewebt und genäht. Aber trotzdem dehnbar, zumindest ein bisschen. Jahrhunderte vor der Erfindung von Elastan und Co. gab es einen dehnbaren Stoff namens Scharlach. Der Trick dabei war: Der Kettfaden wurde verdreht, dadurch war das Gewebe bis zu einem gewissen Grad elastisch. Unnötig zu betonen, dass solche Stoffe kostspielig waren. Einfache Leute umwickelten Beine und Füsse weiterhin mit Lappen. Dagegen waren auch noch der gröbsten Strickstrümpfe ein Fortschritt. Für diese waren in weiten Teilen Europas die Leute auf dem Land zuständig. Frauen, Kinder und Männer haben im Gehen und Stehen, beim Schafe- oder Schweinehüten Strümpfe gestrickt. Oder beim Wacheschieben. Auf zahlreichen Bildern des deutschen Malers Carl Spitzweg sind Soldaten mit Strickzeug zu sehen.
Feine Ware entstand in den Städten, bei den Strumpfwirkern. Und das auch noch lange nachdem William Lee 1589 die erste Strickmaschine gebaut hatte. Sie wurde von sämtlichen Strickergilden vehement bekämpft.
Für Gottes Sohn und Gottes Lohn
Wer strickt, ist in guter Gesellschaft. Auch die Muttergottes hat gestrickt, zumindest auf manchen spätmittelalterlichen Gemälden. Das bekannteste ist die ‚Buxtehude Madonna’ von Meister Bertram. Es zeigt Maria, wie sie gerade an einem Hemd die Maschen für den Halsausschnitt auffasst, wärend das Jesuskind zu ihren Füssen in ein Buch vertieft ist. Wenn sich die höchste aller Frauen für Handarbeit nicht zu schade war, dann konnten auch die Damen der feinen Gesellschaft nicht passen. Wer weiss, vielleicht standen ja solche Darstellungen Pate bei der Gründung der zahlreichen Gruppen und Kränzchen, in denen für wohltätige Zwecke gestrickt wurde und immer noch wird. Noch in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts mussten in Basler Schulen die Mädchen, die wegen „Unwohlseins“ vom Turnen dispensiert waren, Socken stricken für die Caritas.
Wohltätigkeit hin oder her - Stricken kann auch stören. Als in England die Strickwut grassierte, sahen sich die Priester gezwungen, das Nadelgeklapper während des Gottesdienstes zu verbieten. Was wiederum dazu führte, dass in manchen englischen Familien Stricken am Sonntag bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts tabu war.
Ebenfalls aus England stammt das wohl skurrilste Werk zum Thema Religion und Handarbeit: eine Anleitung für eine gestrickte Weihnachtskrippe von Jan Messent aus den 80er-Jahren. Da ist schlicht alles gestrickt, auch noch das Stroh in der Krippe.
Zwischen Witz und Wahn
Auch kratzige Socken oder scheussliche Pullover lassen sich noch in die Kategorie ‚nützliche Dinge’ einreihen. Aber was, wenn der Bedarf rundum gedeckt ist? Dieses Problem kannten schon die Damen des Viktorianischen Zeitalters. Nachdem sie ihre Lieben mit Wolle umwickelt hatten, begannen sie, Gebrauchsgegenstände und Möbel zu verhüllen. Flaschen, Krüge, Lampenfüsse, Stuhlbeine – nichts blieb verschont. Als alles überzogen war, widmeten sie sich der Miniaturstrickerei. Dabei entstanden wollene Krüglein von ein, zwei Zentimeter Höhe zur Aufbewahrung von kleinen Münzen. Aber es gibt keinen Grund, sich über die viktorianischen Ladies lustig zu machen. Auch heute werden wieder Töpfe und Vasen überzogen und Kochlöffelhalter gestrickt. Mehr noch: Junge Designstudios bringen Schemel mit Socken oder gestrickte Stühle auf den Markt.
Was für Kunst oder Architektur gilt, trifft auch fürs Textile zu: Die Mehrzahl der Akteurinnen und Akteure sind im besten Falle technisch kompetent und fleissig. Nur ein paar wenige sind kreative Könner. Zu ihnen gehört die Engländerin Audrie Stratford, die einerseits Strickanleitungen für Blinde ausgearbeitet hat, andererseits mit den unmöglichsten Materialien experimentiert. So hat sie auch schon (gekochte!) Spaghetti verstrickt oder Besenstiele als Nadeln benutzt.
Bei der bereits erwähnten Jan Messent beschleicht die Betrachterin, angesichts von gestrickten Herrscher-Porträts und dreidimensionalen Gärten, bei aller Bewunderung vor so viel Fleiss, eine Art Beklemmung.
Die Werke des Farbkünstlers Kaffe Fassett hingegen haben durchaus etwas Erfrischendes. Der mittlerweile 70-jährige Strickkünstler hat seine farbenfrohen Dessins längst auf Quilts, Gobelins, Tapeten und Porzellan ausgedehnt – aber gehandelt wird er nach wie vor als der ‚bright star of the knitting world’. Eine Zeit lang hatte er seine eigene Strick-Show im BBC Fernsehen.
Stricken als Männersache
Frauen kochen seit Urzeiten, aber meist schaffen es nur die kochenden Männer ins Fernsehen. Beim Stricken scheint es ähnlich zu sein. Kaffe Fassett war nicht der erste TV-Stricker. Vor ihm hat schon James Norbury den Briten die klassischen Muster der Inseln nähergebracht und über die korrekte Handhabung der Nadeln doziert. Tatsächlich war Stricken früher ein Männerberuf. Die erste Strickergilde, 1527 in Paris gegründet, nahm nur Männer auf. Als Gesellenstück mussten eine aufwändig gearbeitete Mütze und ebensolche Strümpfe abgeliefert werden. Die Kaufleute, die die Produkte vermarkteten, waren natürlich ebenfalls Männer. Der Autor von „Robinson Crusoe“ zu Beispiel, Daniel Defoe (ca. 1660 – 1731), war in früheren Jahren Strickwaren-Grosshändler.
Um 1800 publizierte ein Monsieur Dubois aus der Schweiz ein Buch zum Thema Strickarbeit. Er soll das Kunststück beherrscht haben, mit einem Nadelspiel und zwei Wollknäueln zwei Socken aufs Mal zu stricken. Am Schluss zog er aus dem fertigen Strumpf den unsichtbar mitgestrickten zweiten heraus. Ein aufsehenerregender Trick, den auch die bereits erwähnte Eva Grimmer von Vilfil beherrscht. Männer haben in den letzten Jahrzehnten in unsern Breitengraden höchstens als Proteststricker von sich reden gemacht.
Kampfansage mit Stricknadeln
Volker Elis Pilgrim, Autor und Männerbefreier, kämpfte in den 70er-Jahren in Dietmar Schönherrs Talkshow mit Strickzeug gegen den Patriarchen in sich selbst. Der Umweltaktivist Bruno Manser protestierte 1993 vor das Bundeshaus in Bern hungernd und strickend gegen Tropenholzimporte. Bundesrätin Ruth Dreifuss setzte sich dazu und strickte mit.
Im Französischen gibt es den Begriff der ‚Tricoteuse’ für eine Frau mit radikaler politischer Haltung. Er geht zurück auf die Französische Revolution von 1789 als die Gegner die revoltierenden Frauen verächtlich als Robespierres Tricoteusen bezeichneten. Tatsächlich sollen Frauen um die Guillotine gesessen und das blutige Spektakel strickend mitverfolgt haben.
Heute sitzen wieder Frauen auf Plätzen in New York und anderen amerikanischen Städten. Sie nennen sich die ‚Granny Peace Brigade’ und stricken Decken für irakische Kinder sowie spezielle Strümpfe, welche die kriegsverletzten Heimkehrer über ihre Beinstümpfe ziehen können. An solchen Modellen hat die Industrie wohl kaum Interesse.
Von Maschen umringelt
Unsere Wäsche und viele unserer Kleidungsstücke sind Maschenware. Socken, Strümpfe, Unterwäsche, T-Shirts, Pullis, Pyjamas - fast alles hat, bei genauerer Betrachtung, die typische Maschenoptik. Auch wenn streng genommen nur die wenigsten Stücke in einem eigentlichen Strickverfahren fabriziert worden sind. Die maschinelle Herstellung von Textilien ist eine Wissenschaft für sich, und der kurze Ausflug in die Industrie soll nur zeigen, was aus der Idee mit dem einen Faden im Laufe der Jahrhunderte geworden ist.
Einen Moment lang kann man sich ja vorstellen, wie mühsam es wäre, wenn es alle diese Sachen nicht zu kaufen gäbe. Von Hand lassen sie sich nämlich kaum anfertigen. Die handgestrickte Badehose ist ein Alptraum, vor allem nach dem Bad. Und um eine Familie mit Socken und Pullovern zu versorgen, durften Frauen früher nie ohne Strickzeug dasitzen. Einfach nur zu lesen ohne zu stricken galt als Zeitverschwendung. Getreu dem englischen Spruch: ‘Man may work from sun to sun, but woman’s work is never done.’ Kommt dazu, dass die meisten Stricksachen etnweder nicht erhältlich oder viel zu teuer waren.
Lustvoller Luxus
Heute haben wir beides: Eine Riesenauswahl an maschinengefertigten Strickwaren für fast jeden Körperteil und jedes Portemonnaie. Daneben einen Trend zum Handgestrickten, der alle alten Vorurteile hinter sich gelassen hat. Ankerbild, Arme-Leute- oder Körnlipicker-Image waren gestern. Die heutigen Wollgarnproduzenten – ob aus der Schweiz oder aus Japan - bringen Ware auf den Markt, bei dem es auch die Handarbeitsgeschädigten in den Fingern juckt. Und die Strickliteratur mit ihren frechen Ideen tut das ihre dazu. Eine Umfrage im Fachhandel zeigt zudem, dass viele Frauen, wenn sie schon zu den Stricknadeln greifen, sich auch das Bessere gönnen: Seide oder Cashmere, zum Beispiel für das Bolero zum Abendkleid. Es ist ähnlich wie beim Essen. Ob man ins Restaurant einlädt oder die Gäste am eigenen Herd verwöhnt, ist nicht dasselbe. Aber beides hat seinen festen Platz im modernen Alltag. Nur dass es vielleicht mehr Freude bringt, die selbstgemachten Agnolotti zu servieren. So wie die selbstgestrickten Socken garantiert länger halten.
Gesellschaft Geschichte des Strickens
Von der Bürde zum Boom
Der Strickfaden reicht weit zurück
Jahrzehntelang bedeutete ‚handgestrickt’ soviel wie bieder, brav und hausbacken. Jetzt hat eine neue Generation von Frauen das Strickheft in die Hand genommen. Freiwillig, mit Vergnügen und mit nie dagewesen Möglichkeiten.
Die ersten, die den Trend wohltuend zu spüren bekamen, waren die Inhaberinnen von Strickläden. „Auf dem Tiefpunkt, vor rund zwanzig Jahren, wollte keine junge Frau mit Strickzeug ertappt werden“, erzählt Marianne Eberle von Hand-Art in Zürich. „Jetzt ist es genau umgekehrt. Wer stricken kann, wird bewundert.“ Dazu hat die Mode ihren Teil beigetragen, aber auch die Industrie. Früher war es beispielsweise technisch unmöglich, extrem dicke und gleichzeitig leichte Wollgarne herzustellen. Dem kann Eva Grimmer von der Zürcher Firma Vilfil nur zustimmen. Sie macht seit einigen Jahren noch eine weitere erfreuliche Beobachtung: „Qualität ist auch bei ganz jungen Frauen wieder ein Thema. Sie regen sich auf, wenn das schicke Teil aus dem Billigladen nach zweimaligem Waschen aus der Form gegangen ist. Da strickt man es lieber gleich selber und hat erst noch die grössere Farbauswahl.“ Es ist nicht der Schulunterricht, wirtschaftliche Not oder Langeweile, die heutige Frauen zum Stricken zwingen, sondern ein neu entdeckter Spass am Spiel mit Farben, Formen und Materialien. Aber was ist Stricken eigentlich?
Die Idee ist genial einfach
Ein einzelner Faden wird so mit sich selbst verschlungen, dass daraus eine Fläche oder ein Schlauch entsteht. Das ist zwar auch beim Häkeln der Fall, aber Gehäkeltes ist längst nicht so vielseitig verwendbar. Und im Gegensatz zu Geknüpftem lässt sich Gestricktes im Handumdrehen wieder aufdröseln. Darauf musste erst mal jemand kommen.
Wie beim Weben führen auch beim Stricken die verschiedensten Wege zum Ziel. Wie man die Nadeln hält, welche Hand die Wolle führt, wie die Maschen hergestellt werden, das ist von Land zu Land verschieden. Das Resultat ist immer gleich. Muster und Farbkombinationen hingegen wurden in jedem Teil der Welt wieder neu erfunden. Wer zuerst mit Stricken anfing, lässt sich nicht mehr feststellen.
Sargkissen und Hinrichtungshemden
Textilien halten nicht so lang wie Tonscherben, darum stösst man bei Ausgrabungen selten auf Gestricktes. Zwar hat man in einem ägyptischen Grab die Überreste von Socken gefunden, die aus dem 5. Jahrhundert stammen. Ihr Bild fehlt in keiner Strickgeschichte, aber eigentlich sind sie in Nadelbindung hergestellt, einer alten Knüpftechnik.
Im Mittelalter wurde aber mit Sicherheit schon gestrickt. Zu den bedeutendsten Funden gehören Sargkissen für spanische Infanten. Diese Kissenbezüge mit ihren aufwändigen Mustern sind, mit 80 Maschen auf 10 cm, äusserst fein gearbeitet.
Die Pullover und Matrosenmützen, deren Überreste aus der 1545 gesunkenen „Mary Rose“ geborgen werden konnten, waren dagegen viel gröber gearbeitet. Feine Strickwaren blieben lange den feinen Leuten vorbehalten – bis zum unfeinen Ende. King Charles I trug zu seiner Enthauptung 1649 ein himmelblaues Seidenhemd (85 Maschen auf 10 cm). Es ist bestens erhalten, wenn auch arg befleckt. Auch Mary Stuart Queen of Scots tat ihren letzten Gang in feinen handgestrickten Strümpfen.
Der Draht zum Stricken
Auch wer es nur bis zum Topflappen gebracht hat, weiss wie wichtig die richtigen Nadeln sind. Ob aus Kunststoff, Holz oder Metall, Strickwerkzeug muss glatt und gerade sein. Solche Nadeln konnte man erst ab dem 16. Jahrhundert herstellen, als man es verstand, Draht zu ziehen. Die glänzenden Metallfäden waren eine derartige Sensation, dass Frauenhaar in Liebesgedichten mit feinem Draht verglichen wurde.
Als dann die Nadeln ungehindert klappern konnten, war kein Halten mehr. Jetzt gings ans Strümpfestricken, vor allem in England. Das Land mit den vielen Schafen, bekannt für gute Wollstoffe, wurde nun auch zum Strickwarenland. Ende des 16. Jahrhunderts produzierte es jährlich gegen 20 Millionen Paar Strickstrümpfe und exportierte sie bis nach Spanien, Deutschland, Holland und Italien. Aber was trug man eigentlich an den Beinen bevor es Strümpfe gab?
Die bunten Strumpfhosen, die mittelalterliche Höflinge auf alten Bilder anhaben, sind nicht gestrickt, sondern gewebt und genäht. Aber trotzdem dehnbar, zumindest ein bisschen. Jahrhunderte vor der Erfindung von Elastan und Co. gab es einen dehnbaren Stoff namens Scharlach. Der Trick dabei war: Der Kettfaden wurde verdreht, dadurch war das Gewebe bis zu einem gewissen Grad elastisch. Unnötig zu betonen, dass solche Stoffe kostspielig waren. Einfache Leute umwickelten Beine und Füsse weiterhin mit Lappen. Dagegen waren auch noch der gröbsten Strickstrümpfe ein Fortschritt. Für diese waren in weiten Teilen Europas die Leute auf dem Land zuständig. Frauen, Kinder und Männer haben im Gehen und Stehen, beim Schafe- oder Schweinehüten Strümpfe gestrickt. Oder beim Wacheschieben. Auf zahlreichen Bildern des deutschen Malers Carl Spitzweg sind Soldaten mit Strickzeug zu sehen.
Feine Ware entstand in den Städten, bei den Strumpfwirkern. Und das auch noch lange nachdem William Lee 1589 die erste Strickmaschine gebaut hatte. Sie wurde von sämtlichen Strickergilden vehement bekämpft.
Für Gottes Sohn und Gottes Lohn
Wer strickt, ist in guter Gesellschaft. Auch die Muttergottes hat gestrickt, zumindest auf manchen spätmittelalterlichen Gemälden. Das bekannteste ist die ‚Buxtehude Madonna’ von Meister Bertram. Es zeigt Maria, wie sie gerade an einem Hemd die Maschen für den Halsausschnitt auffasst, wärend das Jesuskind zu ihren Füssen in ein Buch vertieft ist. Wenn sich die höchste aller Frauen für Handarbeit nicht zu schade war, dann konnten auch die Damen der feinen Gesellschaft nicht passen. Wer weiss, vielleicht standen ja solche Darstellungen Pate bei der Gründung der zahlreichen Gruppen und Kränzchen, in denen für wohltätige Zwecke gestrickt wurde und immer noch wird. Noch in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts mussten in Basler Schulen die Mädchen, die wegen „Unwohlseins“ vom Turnen dispensiert waren, Socken stricken für die Caritas.
Wohltätigkeit hin oder her - Stricken kann auch stören. Als in England die Strickwut grassierte, sahen sich die Priester gezwungen, das Nadelgeklapper während des Gottesdienstes zu verbieten. Was wiederum dazu führte, dass in manchen englischen Familien Stricken am Sonntag bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts tabu war.
Ebenfalls aus England stammt das wohl skurrilste Werk zum Thema Religion und Handarbeit: eine Anleitung für eine gestrickte Weihnachtskrippe von Jan Messent aus den 80er-Jahren. Da ist schlicht alles gestrickt, auch noch das Stroh in der Krippe.
Zwischen Witz und Wahn
Auch kratzige Socken oder scheussliche Pullover lassen sich noch in die Kategorie ‚nützliche Dinge’ einreihen. Aber was, wenn der Bedarf rundum gedeckt ist? Dieses Problem kannten schon die Damen des Viktorianischen Zeitalters. Nachdem sie ihre Lieben mit Wolle umwickelt hatten, begannen sie, Gebrauchsgegenstände und Möbel zu verhüllen. Flaschen, Krüge, Lampenfüsse, Stuhlbeine – nichts blieb verschont. Als alles überzogen war, widmeten sie sich der Miniaturstrickerei. Dabei entstanden wollene Krüglein von ein, zwei Zentimeter Höhe zur Aufbewahrung von kleinen Münzen. Aber es gibt keinen Grund, sich über die viktorianischen Ladies lustig zu machen. Auch heute werden wieder Töpfe und Vasen überzogen und Kochlöffelhalter gestrickt. Mehr noch: Junge Designstudios bringen Schemel mit Socken oder gestrickte Stühle auf den Markt.
Was für Kunst oder Architektur gilt, trifft auch fürs Textile zu: Die Mehrzahl der Akteurinnen und Akteure sind im besten Falle technisch kompetent und fleissig. Nur ein paar wenige sind kreative Könner. Zu ihnen gehört die Engländerin Audrie Stratford, die einerseits Strickanleitungen für Blinde ausgearbeitet hat, andererseits mit den unmöglichsten Materialien experimentiert. So hat sie auch schon (gekochte!) Spaghetti verstrickt oder Besenstiele als Nadeln benutzt.
Bei der bereits erwähnten Jan Messent beschleicht die Betrachterin, angesichts von gestrickten Herrscher-Porträts und dreidimensionalen Gärten, bei aller Bewunderung vor so viel Fleiss, eine Art Beklemmung.
Die Werke des Farbkünstlers Kaffe Fassett hingegen haben durchaus etwas Erfrischendes. Der mittlerweile 70-jährige Strickkünstler hat seine farbenfrohen Dessins längst auf Quilts, Gobelins, Tapeten und Porzellan ausgedehnt – aber gehandelt wird er nach wie vor als der ‚bright star of the knitting world’. Eine Zeit lang hatte er seine eigene Strick-Show im BBC Fernsehen.
Stricken als Männersache
Frauen kochen seit Urzeiten, aber meist schaffen es nur die kochenden Männer ins Fernsehen. Beim Stricken scheint es ähnlich zu sein. Kaffe Fassett war nicht der erste TV-Stricker. Vor ihm hat schon James Norbury den Briten die klassischen Muster der Inseln nähergebracht und über die korrekte Handhabung der Nadeln doziert. Tatsächlich war Stricken früher ein Männerberuf. Die erste Strickergilde, 1527 in Paris gegründet, nahm nur Männer auf. Als Gesellenstück mussten eine aufwändig gearbeitete Mütze und ebensolche Strümpfe abgeliefert werden. Die Kaufleute, die die Produkte vermarkteten, waren natürlich ebenfalls Männer. Der Autor von „Robinson Crusoe“ zu Beispiel, Daniel Defoe (ca. 1660 – 1731), war in früheren Jahren Strickwaren-Grosshändler.
Um 1800 publizierte ein Monsieur Dubois aus der Schweiz ein Buch zum Thema Strickarbeit. Er soll das Kunststück beherrscht haben, mit einem Nadelspiel und zwei Wollknäueln zwei Socken aufs Mal zu stricken. Am Schluss zog er aus dem fertigen Strumpf den unsichtbar mitgestrickten zweiten heraus. Ein aufsehenerregender Trick, den auch die bereits erwähnte Eva Grimmer von Vilfil beherrscht. Männer haben in den letzten Jahrzehnten in unsern Breitengraden höchstens als Proteststricker von sich reden gemacht.
Kampfansage mit Stricknadeln
Volker Elis Pilgrim, Autor und Männerbefreier, kämpfte in den 70er-Jahren in Dietmar Schönherrs Talkshow mit Strickzeug gegen den Patriarchen in sich selbst. Der Umweltaktivist Bruno Manser protestierte 1993 vor das Bundeshaus in Bern hungernd und strickend gegen Tropenholzimporte. Bundesrätin Ruth Dreifuss setzte sich dazu und strickte mit.
Im Französischen gibt es den Begriff der ‚Tricoteuse’ für eine Frau mit radikaler politischer Haltung. Er geht zurück auf die Französische Revolution von 1789 als die Gegner die revoltierenden Frauen verächtlich als Robespierres Tricoteusen bezeichneten. Tatsächlich sollen Frauen um die Guillotine gesessen und das blutige Spektakel strickend mitverfolgt haben.
Heute sitzen wieder Frauen auf Plätzen in New York und anderen amerikanischen Städten. Sie nennen sich die ‚Granny Peace Brigade’ und stricken Decken für irakische Kinder sowie spezielle Strümpfe, welche die kriegsverletzten Heimkehrer über ihre Beinstümpfe ziehen können. An solchen Modellen hat die Industrie wohl kaum Interesse.
Von Maschen umringelt
Unsere Wäsche und viele unserer Kleidungsstücke sind Maschenware. Socken, Strümpfe, Unterwäsche, T-Shirts, Pullis, Pyjamas - fast alles hat, bei genauerer Betrachtung, die typische Maschenoptik. Auch wenn streng genommen nur die wenigsten Stücke in einem eigentlichen Strickverfahren fabriziert worden sind. Die maschinelle Herstellung von Textilien ist eine Wissenschaft für sich, und der kurze Ausflug in die Industrie soll nur zeigen, was aus der Idee mit dem einen Faden im Laufe der Jahrhunderte geworden ist.
Einen Moment lang kann man sich ja vorstellen, wie mühsam es wäre, wenn es alle diese Sachen nicht zu kaufen gäbe. Von Hand lassen sie sich nämlich kaum anfertigen. Die handgestrickte Badehose ist ein Alptraum, vor allem nach dem Bad. Und um eine Familie mit Socken und Pullovern zu versorgen, durften Frauen früher nie ohne Strickzeug dasitzen. Einfach nur zu lesen ohne zu stricken galt als Zeitverschwendung. Getreu dem englischen Spruch: ‘Man may work from sun to sun, but woman’s work is never done.’ Kommt dazu, dass die meisten Stricksachen etnweder nicht erhältlich oder viel zu teuer waren.
Lustvoller Luxus
Heute haben wir beides: Eine Riesenauswahl an maschinengefertigten Strickwaren für fast jeden Körperteil und jedes Portemonnaie. Daneben einen Trend zum Handgestrickten, der alle alten Vorurteile hinter sich gelassen hat. Ankerbild, Arme-Leute- oder Körnlipicker-Image waren gestern. Die heutigen Wollgarnproduzenten – ob aus der Schweiz oder aus Japan - bringen Ware auf den Markt, bei dem es auch die Handarbeitsgeschädigten in den Fingern juckt. Und die Strickliteratur mit ihren frechen Ideen tut das ihre dazu. Eine Umfrage im Fachhandel zeigt zudem, dass viele Frauen, wenn sie schon zu den Stricknadeln greifen, sich auch das Bessere gönnen: Seide oder Cashmere, zum Beispiel für das Bolero zum Abendkleid. Es ist ähnlich wie beim Essen. Ob man ins Restaurant einlädt oder die Gäste am eigenen Herd verwöhnt, ist nicht dasselbe. Aber beides hat seinen festen Platz im modernen Alltag. Nur dass es vielleicht mehr Freude bringt, die selbstgemachten Agnolotti zu servieren. So wie die selbstgestrickten Socken garantiert länger halten.