Halab
oder
Warum man den Film «For Sama» unbedingt sehen muss

29. Oktober 2019

Seit 2011 führt Bashar al-Assad Krieg gegen sein Volk, so wie es sein Vater Hafez al-Assad in den 1980er-Jahren getan hat. Seither gehören Meldungen aus den syrischen Kriegsgebieten zu den Nachrichten, die nur noch ab und zu aufhorchen lassen. So als ob man sich daran gewöhnt hätte. Wer sich genauer informieren will, hat viele Möglichkeiten. Auch Bücher wie etwa «Syrian Dust» der italienischen Reporterin Francesca Borri, die monatelang im Bombenhagel in Aleppo ausgeharrt und darüber geschrieben hat. Aber kaum eine Reportage zeigt den Horror des Krieges so eindrücklich, wie das filmische Tagebuch der Journalistin Waad al-Kateab, die das Leben ihrer Familie in der umkämpften Stadt dokumentiert.

«Mein» Aleppo
Weil ich selber einmal ein paar Tage in Aleppo verbracht hatte, glaubte ich stets, die schlimmen Meldungen nur spärlich an mich heranlassen zu können. Aus Feigheit, Ohnmacht, billiger Betroffenheit. Auch das obenerwähnte Buch kenne ich nur aus Rezensionen. Der Film, den ich mir jetzt dennoch zugemutet habe, zeigt nicht nur, dass die schlimmsten Vorstellungen Realität sind, er lässt uns – und das ist das Besondere daran – den ganz normalen Alltag erleben, der alles andere als normal ist. Wir haben keine Ahnung von Aleppo.

Als ich den Namen der Stadt zum ersten Mal hörte, verortete ich sie in Italien. Tatsächlich ist Aleppo die italianisierte Form des arabischen Namens Halab oder Haleb. Und vielleicht war es nur der Gebrauch von Aleppo-Seife, der mich auf die Idee gebracht hatte, 2008 nicht nach Damaskus zu fliegen, sondern nach Istanbul und von dort langsam mit der Bagdad-Bahn quer durch die Türkei und über die syrische Grenze zu fahren.

Unter dem Deckel
Nach zwei Tagen standen wir auf dem Bahnhofplatz von Aleppo. Ein junger Mann ging mit schnellen, entschlossenen Schritten an uns vorbei. Er war der einzige Syrer in unserer zufällig zusammengewürfelten Reisegemeinschaft. Bei den langwierigen Grenzformalitäten hatte er als Übersetzer zwischen den europäischen Touristen und den wichtigtuerischen Grenzbeamten fungiert. Er war Tänzer, seine schwarzen Haare reichten ihm bis zu den Hüften. Jetzt hatte er sie unter einer Militärmütze versteckt. Nicht auffallen. Sehr bald hatte ich den Eindruck, dass die Menschen in Syrien nach diesem Grundsatz lebten. Überall herrschte eine gespannte Ruhe. Auch in vollbesetzten Restaurants glich der Geräuschpegel dem eines Grossraumbüros. Gedämpft. Unter einer Glocke. Nur selten wagte jemand einen Witz. Einmal suchte ich im Souk ein Geschenk, begutachtete verschiedene Tierfiguren und fragte den Händler: «Haben Sie keinen Löwen?» - «Nein», sagte er, «einer reicht uns!» Er und seine Kollegen lachten. Assad bedeutet Löwe.

Unvorstellbarer Mut
Am Anfang von «For Sama» blendet Waad al-Kateab zurück ins Jahr 2012, als Studierende gegen Diktator al-Assad zu protestieren begannen. Bald danach werden Leichen von Folteropfern aus dem Fluss gezogen. Es ist der Beginn des Krieges. Tausende fliehen, aber sie und ihr Mann, der Arzt Hamza al-Kateab, beschliessen, zu bleiben. Auch als Tochter Sama geboren wird, der Waad ihren Film widmet. Das Mädchen lernt von Anfang an, nicht zu erschrecken, wenn nebenan eine Bombe einschlägt. Hamza richtet mit einem Team ein Spital im Keller ein. Als es zerstört wird, bauen sie woanders ein neues auf. Waad filmt alles, was ihr wichtig erscheint. Notoperationen, die eigene Hochzeit, Flüchtende, die aus der Luft beschossen werden, der Nachbar, der für seine Frau eine Khaki-Frucht gepflückt hat, und immer wieder tote Kinder. Die Journalistin hofft, dass ihre Arbeit dazu beiträgt, dass Assad eines Tages zur Rechenschaft gezogen wird.

Preisgekrönter Dokumentarfilm
Ziel der syrischen und russischen Angriffe 2016 war es, Aleppo zu brechen, sämtliche Krankenhäuser wurden zerstört. Waad, die erneut schwanger ist, entkommt im letzten Moment mit ihrer Familie nach England. Dort verarbeitet sie ihr Filmmaterial zusammen mit dem Regisseur Edward Watts zum Dokumentarfilm, der in Cannes und an anderen Filmfestivals Preise gewinnt. Ihre Befürchtung, dass die Leute rauslaufen werden, hat sich nicht bewahrheitet. «For Sama» muss man durchstehen.

Aktuelles Halab
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Warum man den Film «For Sama» unbedingt sehen muss

29. Oktober 2019

Seit 2011 führt Bashar al-Assad Krieg gegen sein Volk, so wie es sein Vater Hafez al-Assad in den 1980er-Jahren getan hat. Seither gehören Meldungen aus den syrischen Kriegsgebieten zu den Nachrichten, die nur noch ab und zu aufhorchen lassen. So als ob man sich daran gewöhnt hätte. Wer sich genauer informieren will, hat viele Möglichkeiten. Auch Bücher wie etwa «Syrian Dust» der italienischen Reporterin Francesca Borri, die monatelang im Bombenhagel in Aleppo ausgeharrt und darüber geschrieben hat. Aber kaum eine Reportage zeigt den Horror des Krieges so eindrücklich, wie das filmische Tagebuch der Journalistin Waad al-Kateab, die das Leben ihrer Familie in der umkämpften Stadt dokumentiert.

«Mein» Aleppo
Weil ich selber einmal ein paar Tage in Aleppo verbracht hatte, glaubte ich stets, die schlimmen Meldungen nur spärlich an mich heranlassen zu können. Aus Feigheit, Ohnmacht, billiger Betroffenheit. Auch das obenerwähnte Buch kenne ich nur aus Rezensionen. Der Film, den ich mir jetzt dennoch zugemutet habe, zeigt nicht nur, dass die schlimmsten Vorstellungen Realität sind, er lässt uns – und das ist das Besondere daran – den ganz normalen Alltag erleben, der alles andere als normal ist. Wir haben keine Ahnung von Aleppo.

Als ich den Namen der Stadt zum ersten Mal hörte, verortete ich sie in Italien. Tatsächlich ist Aleppo die italianisierte Form des arabischen Namens Halab oder Haleb. Und vielleicht war es nur der Gebrauch von Aleppo-Seife, der mich auf die Idee gebracht hatte, 2008 nicht nach Damaskus zu fliegen, sondern nach Istanbul und von dort langsam mit der Bagdad-Bahn quer durch die Türkei und über die syrische Grenze zu fahren.

Unter dem Deckel
Nach zwei Tagen standen wir auf dem Bahnhofplatz von Aleppo. Ein junger Mann ging mit schnellen, entschlossenen Schritten an uns vorbei. Er war der einzige Syrer in unserer zufällig zusammengewürfelten Reisegemeinschaft. Bei den langwierigen Grenzformalitäten hatte er als Übersetzer zwischen den europäischen Touristen und den wichtigtuerischen Grenzbeamten fungiert. Er war Tänzer, seine schwarzen Haare reichten ihm bis zu den Hüften. Jetzt hatte er sie unter einer Militärmütze versteckt. Nicht auffallen. Sehr bald hatte ich den Eindruck, dass die Menschen in Syrien nach diesem Grundsatz lebten. Überall herrschte eine gespannte Ruhe. Auch in vollbesetzten Restaurants glich der Geräuschpegel dem eines Grossraumbüros. Gedämpft. Unter einer Glocke. Nur selten wagte jemand einen Witz. Einmal suchte ich im Souk ein Geschenk, begutachtete verschiedene Tierfiguren und fragte den Händler: «Haben Sie keinen Löwen?» - «Nein», sagte er, «einer reicht uns!» Er und seine Kollegen lachten. Assad bedeutet Löwe.

Unvorstellbarer Mut
Am Anfang von «For Sama» blendet Waad al-Kateab zurück ins Jahr 2012, als Studierende gegen Diktator al-Assad zu protestieren begannen. Bald danach werden Leichen von Folteropfern aus dem Fluss gezogen. Es ist der Beginn des Krieges. Tausende fliehen, aber sie und ihr Mann, der Arzt Hamza al-Kateab, beschliessen, zu bleiben. Auch als Tochter Sama geboren wird, der Waad ihren Film widmet. Das Mädchen lernt von Anfang an, nicht zu erschrecken, wenn nebenan eine Bombe einschlägt. Hamza richtet mit einem Team ein Spital im Keller ein. Als es zerstört wird, bauen sie woanders ein neues auf. Waad filmt alles, was ihr wichtig erscheint. Notoperationen, die eigene Hochzeit, Flüchtende, die aus der Luft beschossen werden, der Nachbar, der für seine Frau eine Khaki-Frucht gepflückt hat, und immer wieder tote Kinder. Die Journalistin hofft, dass ihre Arbeit dazu beiträgt, dass Assad eines Tages zur Rechenschaft gezogen wird.

Preisgekrönter Dokumentarfilm
Ziel der syrischen und russischen Angriffe 2016 war es, Aleppo zu brechen, sämtliche Krankenhäuser wurden zerstört. Waad, die erneut schwanger ist, entkommt im letzten Moment mit ihrer Familie nach England. Dort verarbeitet sie ihr Filmmaterial zusammen mit dem Regisseur Edward Watts zum Dokumentarfilm, der in Cannes und an anderen Filmfestivals Preise gewinnt. Ihre Befürchtung, dass die Leute rauslaufen werden, hat sich nicht bewahrheitet. «For Sama» muss man durchstehen.