Gesellschaft Harry Potter

Ausharren bis Harry kommt

Der fünfte Band von Harry Potter erscheint mit zweijähriger Verspätung irgendwann im nächsten Sommer. Millionen Kinder trösten sich mit dem Video. Aber wer tröstet die Erwachsenen?

14. Oktober 2000, 07.17 Uhr. Einfahrt des Hogwarts-Express in den Zürcher Hauptbahnhof. Keine scharlachrote Dampflok auf Gleis 9 3/4, nur der „Rote Pfeil” auf Gleis 3. Er holt keine Zaubererkinder zum Schulbeginn in den Norden Schottlands, nur kaufwillige Erwachsene in die Buchhandlung im Shopville. Ein Aktiönchen zum Verkaufsstart von Harry Potter Band IV. Im Kinderbuchladen im Oberdorf gibt’s zur Feier des Tages Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen. Mit viel Zucker aber ansonsten ohne Risiko. Die Variationen Spinat, Nasenpopel und Ohrenschmalz fehlen. Die Kunden auch. Die Buchhändlerinnen in ihren Spitzhüten und Umhängen hängen herum, Verlegenheit unterm Hexen-Make up.

Verlegen reagiert auch Harry Potter wenn jemand die blitzförmige Narbe auf seiner Stirn anstarrt. Als einjähries Baby hat er die tödliche Attacke des schwarzen Magiers Lord Voldemort überlebt. Der böse Zauber ist von ihm abgeprallt und hat stattdessen den Angreifer getroffen. Aber nicht getötet. Reduziert auf ein hilfloses Häufchen überlebt das Böse und schwört Rache. Aufgepäppelt von seinen Getreuen schlägt Voldemort zehn Jahre später wieder zu. Da ist Harry elf Jahre alt und Zauberschüler in Hogwarts. Auch dieser Angriff schlägt fehl. Aber der schwarze Lord versucht es immer wieder, und in Band IV, in der berühmten Friedhofsszene, gewinnt er bedrohlich an Kräften. Drei Bände stehen noch aus.

Und damit macht man Milliarden?, fragen die Muggels – die nichteingeweihten Nichtzauberer - und sind ratlos, wenn selbst Menschen in der zweiten Lebenshälfte wegen einem Kinderbuch glänzende Augen und gleichzeitig Herzrasen bekommen. Man muss die Bücher lesen. Am besten langsam, am allerbesten auf Englisch. Billig ist Harry Potter nicht zu haben.

„Ich kann verstehen, wenn Leute heute keine Lust mehr verspüren, mit Harry Potter anzufangen. Es wird einem ja derart um die Ohren gehauen”, meint Thomas Bodmer und fügt bedauernd hinzu: „Diese Leute tun mir leid.”

Thank you very much

Der Journalist, Anglist und Übersetzer Bodmer hat am Grosserfolg mitgestrickt. Die holländische Komponistin Fay Lovsky hatte ihn Ende 1998 auf die damals erst zwei Bücher aufmerksam gemacht. Er las den ersten Satz des ersten Bandes:

„Mr. and Mrs Dursley of number four, Privet Drive, were proud to say that they were perfectly normal, thank you very much.” und wusste: Das ist ein Humor, der mir gefällt. Ein paar Monate später sass er mit der Autorin Joanne K. Rowling in Nicolsons Cafe in Edinburgh. Sie lachten viel. Es wurde sein schönstes Interview, dauerte drei Stunden und füllte 50 Typoskript-Seiten. Eine Kurzfassung erschien im September 1999 im „Magazin” unter dem Titel „Die erfolgreichste Schriftstellerin der Welt.” Die Nummer war schnell vergriffen.

Das Unerklärbare

Im Herbst/Winter 99, mit dem Erscheinen von Band III, brach der grosse Rummel los. Am 8. Dezember berichtete SF DRS in der „Rundschau” über das Phänomen ‚freiwillig lesende Schulkinder’ und zeigte Eltern, die die Welt nicht mehr verstanden. Jahrelang hatten sie versucht, ihre Sprösslinge von Video und Gameboy wegzulotsen. Erst Potter-Boy hat das geschafft. Jubel brach los. „Harry Potter a changé les enfants” titelte das französische Literaturmagazin LIRE. Denkste. Band V lässt auf sich warten, und die Kids sind – Potter or nothing - längst zurück am Bildschirm. Derweil Mami und Papi das nächste Buch herbeisehnen, nicht zuletzt für sich selber.

Die Potter-Normalverbraucher unter den Erwachsenen gestehen offen, dass sie sich gern mit Harry aus der Muggelwelt katapultieren und mit ihren Kindern Zaubererparties feiern. Andern fällt das Coming-out schwer. Für diese – und für ein paar Franken mehr – haben die Verlage eine Buchausgabe mit neutralem Cover als Schutz vor Gesichtsverlust parat. Derweil Anglisten, Germanisten, Philosophen , Psycho- und Theologen ihrer Hexenlust hinter verschlossenen Hörsaaltüren frönen dürfen, in unzähligen Diskussionen, Seminaren und Symposien.

Teufelszeug?

Gerüchte von dunklen Mächten und dringender Esoterikverdacht veranlasste die katholische Akademie in Bayern zu einer Tagung und zur Publikation ”Im Banne des Zauberlehrlings”. Da sieht sich der Pfarrer Florian Schuller  beim Waisenkind Harry, das bei den bösen Verwandten im Schrank unter der Treppe haust, an den heiligen Alexius erinnert, weil der 17 Jahre lang unerkannt als Bettler unter der Treppe seines Elternhauses darbte. Schuller analysiert die Namen einiger Protagonisten (Harrys Gegenspieler aus der Parallelklasse, Draco Malfoy z.B., wird zum ‚Drachen schlechter Glaube’) und attestiert der Autorin Rowling, dass sie es besser verstehe, Lebensweisheiten weiterzugeben als die professionellen Verkünder, denen in ihrer Hilflosigkeit immer nur „Der kleine Prinz” einfällt. Grosses Aufatmen zum Schluss: Potter-Bücher sind kein Teufelszeug.

Das sehen andere anders. Im erwähnten Rundschau-Beitrag kamen besorgte Eltern aus den USA zu Wort, die ein absolutes Potterverbot ausgesprochen hatten, weil mit Hexen und schwarzer Magie nicht zu scherzen ist. Im Internet stösst man auf Schauerliches. „Satan is up to his old tricks again and the main focus is the children of the world.”, wird da vor Rowlings Machwerk gewarnt. Ich zeige die Seite dem Philosophen Alois Rust, der mir im Oktober 99 gesagt hatte: „Harry Potter MUSST du lesen!” Erstaunt stellt er fest: „Diese Leute sind ja klar der Überzeugung, es gäbe den Teufel! Die sind selber noch im Märchen drin.” Er und seine Frau haben alle Potter-Bücher verschlungen, während ihre halbwüchsigen Töchter nur die Nasen rümpften. Andere Eltern wurden bei der Lektüre allein gelassen, weil den Kindern die Geschichten schlicht zu nahe gingen. Erstaunlich oft hört man von Erwachsenen, die durch Werbung, Internet, Freunde oder gar durch ihre eigenen Eltern auf den Potterpfad fanden. Die meisten wollten aber nur mal kurz reinschauen.

„Ich war entschlossen, es nicht zu lesen”

Den deutschen Schriftsteller, Literaturkritiker und Thomas Mann-Spezialisten Michael Maar hats besonders krass erwischt:

„An einem Sonntagnachmittag um drei wollte ich den ersten Band, der in mein Arbeitszimmer geraten war (meine Tochter hatte ihn von einer Freundin geliehen bekommen), ins Kinderzimmer zurückbringen. In diesem Moment, den ich nicht vergessen werde, sagte ich mir, daß ich wenigstens einen Blick hineinwerfen könnte. Ich war entschlossen, es nicht zu lesen, das ganze Gewese um den Erfolg hatte mich abgestossen. Beim ersten störenden Satz würde ich abbrechen, ich hatte auch gar keine Zeit für solche Lektüren. Am Montag wurden die nächsten Bände von jener Freundin ausgeliehen, am Dienstag musste meine Frau mir den letzten nachkaufen, den ich Mittwoch nachts um zwei beendete. Hätte um eins etwas am Fenster geklirrt (bei der Friedhofsszene), wären meine Kinder am nächsten Tag als Halbwaisen aufgewacht.”

Ausrufe der Bewunderung

„Wie schafft man das?”, wollte ich von Michael Maar wissen. „Ich habe eben nichts anderes gemacht. Nur zwischendrin immer wieder Ausrufe der Bewunderung ausgestossen.” Das tat auch Thomas Bodmer. Im „Magazin” hatte er vor drei Jahren behauptet, J.K. Rowlings Kinderbücher seien besser geschrieben als 92% der Erwachsenenliteratur. Darauf angesprochen, ob das nicht etwas vollmundig sei, meint er: „Ich stehe absolut noch dazu. Ich denke sogar, es sind eher mehr. Kürzlich habe ich mir „Synchron” von Thomas Hürlimann angesehen und gedacht: Mein Gott, was sind das für Scheissdialoge! Viele Autoren machen es sich einfach zu leicht.” Ob denn sein Lob der genialen Konstruktion - J.K.R. hat fünf Jahre allein für die Entwicklung der Figuren und des Plots gebraucht - oder auch der Sprache gelte, antwortet er: „Es gilt für alles. Um Gernhardt zu zitieren: Einfälle haben kann jeder. Die Kunst besteht darin, wie man einen Einfall entwickelt. Darin ist sie wahnsinnig gut. Sie kann planen. Ein Beispiel: Sirius Black, eine Hauptfigur in Band III, kommt im ersten Band im ersten Kapitel vor und dann nicht mehr. Rowling sagte mir, sie habe tausende von Seiten Notizen gemacht über die Zauberwelt, sie habe sich Details aufgeschrieben, die wahrscheinlich nie in einem Buch auftauchen. ‚Ich muss das wissen, für mich, damit es in sich stimmt.’

Aschenputtel , Blyton und Lord of the Rings ..

Vergleich muss sein, und es gibt kein Genre, mit dem die Potter-Bücher nicht verglichen werden, sei es, um sie zu loben oder um sie abzutun. Dieter Petzold, Professor für Anglistik, hat für die Tagung der katholischen Akademie Rowlings Werk probeweise in verschiedenen Schubladen abgelegt:

Als Märchen oder phantastische Erzählungen kann man die Potter-Geschichten nicht bezeichnen, denn sie spielen gleichzeitig in einer erfundenen und in der normalen Welt und leben von der Spannung zwischen Normalität und Wunderbarem. Joanne K. Rowling sagt, ihr sei Fantasy fremd. Darum habe sie beim Schreiben von Band I auch plötzlich gestutzt: „This has got unicorns in it. I’m writing fantasy!”

Noch kürzer greift die Bezeichnung school stories. Zwar spielen die Potter-Romane in einem viktorianisch anmutenden Internat mit entsprechender Lehrerschaft, aber das ist nichts anderes als ein Cliché, dessen sich die Autorin augenzwinkernd bedient. Im vierten Band, nach dreieinhalb Jahren dicker Freundschaft, merkt Ron plötzlich, dass Hermine ein Mädchen ist. Das Interesse am andern Geschlecht wird naturgemäss in den nächsten Büchern zunehmen, denn die Figuren werden älter. Auch das ein wesentlicher Unterschied zu Schulgeschichten à la Enid Blyton.

Von der Spannung her kann es Harry Potter mit jedem Kriminal- oder Agentenroman aufnehmen. Thomas Bodmer schrieb in seiner Kritik zu  Band IV: „... ich versuchte die Lektüre so lange hinauszuzögern wie nur möglich. Doch im 32. Kapitel raste mein Puls, was mir bei Erwachsenenkrimis seit Jahren nicht mehr passiert ist.”

Natürlich drängen sich auch Vergleiche mit Heroic Fantasy und Bildungsromanen auf. Aber während die guten Superhelden das Böse bekämpfen ohne lange darüber nachzudenken, ist die Ambivalenz des Bösen bei Potter von Anfang an im Zentrum. Das zeigt sich bereits bei Harrys Ankunft in Hogwarts. Die Schule ist in vier Häuser aufgeteilt: Ein Hut, den die Kandidatinnen und Kandidaten aufsetzen müssen, durchleuchtet deren Charakter und schickt sie zu den ehrlichen Hufflepuffs, den fleissigen Ravenclaws, den klugen und tapferen Gryffindors oder zu den verschlagenen Slytherins, bei denen einst auch Lord Voldemort das Zaubern lernte. Bei Harry zögert der Hut zwischen den beiden letzten Häusern, schickt ihn dann aber doch nach Gryffindor, weil – und das ist entscheidend – Harry das so will. „Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.”, sagt der weise Schulleiter Dumbledore am Schluss von Band II. Ich-Findung ist beim elternlosen Harry, der elf Jahre lang nicht weiss, dass er ein Zauberer ist, ein zentrales Thema. So gesehen liegt Entwicklungroman sicher nicht falsch.

Der Philosoph Rust, der wie er sagt, die Bücher nicht analysiert sondern in Tram und Bett gierig reingezogen hat, war sehr angetan von der Komplexität der Figuren und von der psychologischen Tiefenschärfe, mit der sie gezeichnet sind. Die Designerin Lize Mifflin Schmid, die selber Kindergeschichten schrieb, lobt, wie klug und kindergerecht die Bücher aufgebaut sind. Sie hat ihren beiden Kindern sämtliche Bände drei bis viermal vorgelesen, obwohl sie anfangs fürchtete, die Tochter sei noch zu jung. Aber jede Frage, die das Kind stellte, wurde im nächsten Satz beantwortet. Mifflin schwärmt besondes von Band III und von Professor Lupin (der jeweils bei Vollmond seinem Namen alle Ehre macht und auch Rowlings Lieblingfigur ist.): „Wie da die Charaktere herausgearbeitet sind und die Freundschaft der ehemaligen Hogwarts-Schüler geschildert wird, so subtil.”

Aber eigentlich könnte man den ganzen Zauber vergessen, wäre da nicht der stets lauernde Humor, die feine Ironie. Ich selber hatte die Bücher monatelang ungelesen auf dem Schreibtisch liegen. Erst als mir nach einem komplizierten Beinbruch das Lachen vergangen war, nahm ich zögernd den ersten Band zur Hand. Ich hatte ein wenig Angst, wie immer, wenn die Gefahr droht, dass man sich auf eine grosse Kiste einlässt. Schon auf Seite 6, bei der „... Katze, die eine Strassenkarte studierte” hatte ich mein Bein und die Muggelwelt vergessen. Herrlich, wie Rowling beispielsweise in Band IV die Sensationspresse durch den Kakao zieht, nachdem sie wohl selber einschlägige Erfahrungen gesammelt hatte. Oder wie sie Autobegeisterung in der Werbung für einen neuen Rennbesen karikiert: „Jede handverlesene Birkenholzrute des Schweifs ist aerodynamich optimal abgeschliffen... Der Feuerblitz beschleunigt von 0 auf 250 Stundenkilometer in 10 Sekunden und ist mit einem unbrechbaren Bremszauber ausgestattet”.

Strafe für Nabokov

Michael Maar, der sozusagen mit dem Feuerblitz in 2 ½ Tagen durch rund 1800 Seiten Potter gedüst ist, hatte sich dabei, rein gewohnheitsmässig auch noch Notizen gemacht. Ein Essay für die Zeitung sollte es werden, ein 184 Seiten dickes Buch ist es geworden. Es trägt den Titel „Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte” und wurde ein bisschen gelobt, ein bisschen verrissen, vor allem aber ignoriert. Thomas Bodmer meint: „Maar wird dafür bestraft, dass er Harry Potter ernst genommen hat. Dass er sagt, diese Bücher haben Qualitäten, die auch ein Nabokov hat, dass nehmen ihm diese dummen S.. übel”. Auf die Frage, wie er das erlebt habe, erzählt Maar: „Einige Erwachsenen waren offensichtlich beglückt, ihre klandestine Vorliebe geteilt zu sehen. Viele meines Kreises aber kannten und kennen Harry Potter nicht. Die Intellektuellen (in Deutschland, nicht in den USA) verachten Harry Potter präventiv und die Harry Potter-Leser verachten oder ignorieren die Intellektuellen.” Wer gescheite Verlgeiche mit Nabokov, Poe, Dickens, Austen etc., verknüpft mit gelungenen Kurzfassungen von Potter I - IV lesen möchte, dem sei das Buch hiermit empfohlen. Maar spinnt darin die Geschichten spielerisch weiter und hat kürzlich als Gastprofessor in Stanford den Studierenden Examensfragen gestellt wie: „Who will die in Harry Potter, and why?” Auch eine Art, das Vakuum zu füllen.

Das lange Warten sieht Maar nur positiv: „Rowling tut das Beste, was sie machen kann, und lässt sich nicht unter Druck setzen. Sie ist eine ehrgeizige Autorin und will gute Literatur schaffen. Das ist es, was für sie zählt, nicht Marketing-Überlegungen.” Ähnlich verständnisvoll reagierten die meisten Erwachsenen, mit denen ich sprach. Lize Mifflin Schmid fürchtet allerdings, dass ihr Sohn in einem Jahr nicht mehr mitmachen wird. Er wird Band V sicher lesen, aber er wird nicht mehr mit der kleinen Schwester im Wohnzimmer herumlümmeln und Mami beim Vorlesen zuhören wollen. Und das war es, was sie in den unzähligen Lektürestunden so geschätzt hat: „Es waren nicht nur die Figuren und Geschichten, es war das Phänomen des gemeinsamen Erlebens. Als die Bücher zu Ende waren, fühlten wir alle drei, wie sich ein Loch auftat.”

Kuscheln mit Harry

Geborgenheit in der Hogwarts-Welt ist neben Spannung, Abenteuer, Witz und Spass ein bedeutender aber meist verschwiegener Teil des Genusses. Die Lehrerin Judith Kunz schickt ihre Schülerinnen vor die Tür, wenn sie sie beim Potterlesen erwischt. Nicht um sie zu bestrafen, sondern damit sie das Kapitel in Ruhe beenden können. Auf ihr eigenes Lesevergnügen angespochen, erzählt die Frau im Grossmutteralter: „Ich verkrieche mich auf der Couch, tauche ab und bin nicht mehr in der Muggel-Welt. Ich rieche sogar, wie es in Hogwarts riecht. Und der Baum vor meinem Fenster hat plötzlich auch einen unterirdischen Zugang ...”

Alois Rust fühlt sich stark in seine eigene glückliche Internatszeit zurück versetzt. „Gemeinsames Essen, Bücher durch lange Gänge schleppen,die Heimlichkeiten, es kommt mir alles so bekannt vor. Wir hatten Latein in einem schlauchartigen Raum, in dem auch noch ausgestopfte Krokodile aufbewahrt wurden. Hogwarts pur.” Und dann denkt er laut darüber nach, ob Eltern und Kindern nicht viel unnötiger Schmerz erspart bliebe, wenn die Pubertierenden sich untereinader und mit fremden Erwachsenen herumschlagen müssten. Internate haben auch ihr Gutes.

Hier Kinder, hier Erwachsene

Alban Nikolai Herbst, der Michael Maars Buch offensichtlich nicht gelesen hat, schreibt dazu: „... aber dass (Harry Potter) bei Erwachsenen so greift und griffig gemacht wird, zeigt einen Regress von erschreckendem Ausmass: Man möchte die Welt wieder so klar und rein, wie sie niemals gewesen ist.” Wahrscheinlich bin ich für Herrn Herbst der schlagende Beweis, wenn ich frage: Wo sind eigentlich die grossen Unterschiede zischen Kindheit, Jugend und Erwachsenendasein? Die Gefühle und Ängste sind die gleichen, nur unmittelbarer. Schule ist anspruchsvoller als die meisten Erwachsenenjobs. Umgekehrt schrumpft die Freiheit, die man als Jugendliche herbeisehnt, bei näherer Betrachtung gewaltig. Und was unsere Verantwortung betrifft ... Lassen wirs. Nur das milde Lächeln, mit dem wir die Kinderwelt betrachten, könnten wir uns abschminken. Und die strikte Trennung in Erwachsenen- und Kinderliteratur ebenfalls. Übrigens: Joanne K. Rowling hat einen Zettel über ihrem Pult aufgehängt, auf dem steht: „Man muss für Kinder genauso schreiben wie für Erwachsene, nur besser.”

Gesellschaft Harry Potter

Ausharren bis Harry kommt

Der fünfte Band von Harry Potter erscheint mit zweijähriger Verspätung irgendwann im nächsten Sommer. Millionen Kinder trösten sich mit dem Video. Aber wer tröstet die Erwachsenen?

14. Oktober 2000, 07.17 Uhr. Einfahrt des Hogwarts-Express in den Zürcher Hauptbahnhof. Keine scharlachrote Dampflok auf Gleis 9 3/4, nur der „Rote Pfeil” auf Gleis 3. Er holt keine Zaubererkinder zum Schulbeginn in den Norden Schottlands, nur kaufwillige Erwachsene in die Buchhandlung im Shopville. Ein Aktiönchen zum Verkaufsstart von Harry Potter Band IV. Im Kinderbuchladen im Oberdorf gibt’s zur Feier des Tages Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen. Mit viel Zucker aber ansonsten ohne Risiko. Die Variationen Spinat, Nasenpopel und Ohrenschmalz fehlen. Die Kunden auch. Die Buchhändlerinnen in ihren Spitzhüten und Umhängen hängen herum, Verlegenheit unterm Hexen-Make up.

Verlegen reagiert auch Harry Potter wenn jemand die blitzförmige Narbe auf seiner Stirn anstarrt. Als einjähries Baby hat er die tödliche Attacke des schwarzen Magiers Lord Voldemort überlebt. Der böse Zauber ist von ihm abgeprallt und hat stattdessen den Angreifer getroffen. Aber nicht getötet. Reduziert auf ein hilfloses Häufchen überlebt das Böse und schwört Rache. Aufgepäppelt von seinen Getreuen schlägt Voldemort zehn Jahre später wieder zu. Da ist Harry elf Jahre alt und Zauberschüler in Hogwarts. Auch dieser Angriff schlägt fehl. Aber der schwarze Lord versucht es immer wieder, und in Band IV, in der berühmten Friedhofsszene, gewinnt er bedrohlich an Kräften. Drei Bände stehen noch aus.

Und damit macht man Milliarden?, fragen die Muggels – die nichteingeweihten Nichtzauberer - und sind ratlos, wenn selbst Menschen in der zweiten Lebenshälfte wegen einem Kinderbuch glänzende Augen und gleichzeitig Herzrasen bekommen. Man muss die Bücher lesen. Am besten langsam, am allerbesten auf Englisch. Billig ist Harry Potter nicht zu haben.

„Ich kann verstehen, wenn Leute heute keine Lust mehr verspüren, mit Harry Potter anzufangen. Es wird einem ja derart um die Ohren gehauen”, meint Thomas Bodmer und fügt bedauernd hinzu: „Diese Leute tun mir leid.”

Thank you very much

Der Journalist, Anglist und Übersetzer Bodmer hat am Grosserfolg mitgestrickt. Die holländische Komponistin Fay Lovsky hatte ihn Ende 1998 auf die damals erst zwei Bücher aufmerksam gemacht. Er las den ersten Satz des ersten Bandes:

„Mr. and Mrs Dursley of number four, Privet Drive, were proud to say that they were perfectly normal, thank you very much.” und wusste: Das ist ein Humor, der mir gefällt. Ein paar Monate später sass er mit der Autorin Joanne K. Rowling in Nicolsons Cafe in Edinburgh. Sie lachten viel. Es wurde sein schönstes Interview, dauerte drei Stunden und füllte 50 Typoskript-Seiten. Eine Kurzfassung erschien im September 1999 im „Magazin” unter dem Titel „Die erfolgreichste Schriftstellerin der Welt.” Die Nummer war schnell vergriffen.

Das Unerklärbare

Im Herbst/Winter 99, mit dem Erscheinen von Band III, brach der grosse Rummel los. Am 8. Dezember berichtete SF DRS in der „Rundschau” über das Phänomen ‚freiwillig lesende Schulkinder’ und zeigte Eltern, die die Welt nicht mehr verstanden. Jahrelang hatten sie versucht, ihre Sprösslinge von Video und Gameboy wegzulotsen. Erst Potter-Boy hat das geschafft. Jubel brach los. „Harry Potter a changé les enfants” titelte das französische Literaturmagazin LIRE. Denkste. Band V lässt auf sich warten, und die Kids sind – Potter or nothing - längst zurück am Bildschirm. Derweil Mami und Papi das nächste Buch herbeisehnen, nicht zuletzt für sich selber.

Die Potter-Normalverbraucher unter den Erwachsenen gestehen offen, dass sie sich gern mit Harry aus der Muggelwelt katapultieren und mit ihren Kindern Zaubererparties feiern. Andern fällt das Coming-out schwer. Für diese – und für ein paar Franken mehr – haben die Verlage eine Buchausgabe mit neutralem Cover als Schutz vor Gesichtsverlust parat. Derweil Anglisten, Germanisten, Philosophen , Psycho- und Theologen ihrer Hexenlust hinter verschlossenen Hörsaaltüren frönen dürfen, in unzähligen Diskussionen, Seminaren und Symposien.

Teufelszeug?

Gerüchte von dunklen Mächten und dringender Esoterikverdacht veranlasste die katholische Akademie in Bayern zu einer Tagung und zur Publikation ”Im Banne des Zauberlehrlings”. Da sieht sich der Pfarrer Florian Schuller  beim Waisenkind Harry, das bei den bösen Verwandten im Schrank unter der Treppe haust, an den heiligen Alexius erinnert, weil der 17 Jahre lang unerkannt als Bettler unter der Treppe seines Elternhauses darbte. Schuller analysiert die Namen einiger Protagonisten (Harrys Gegenspieler aus der Parallelklasse, Draco Malfoy z.B., wird zum ‚Drachen schlechter Glaube’) und attestiert der Autorin Rowling, dass sie es besser verstehe, Lebensweisheiten weiterzugeben als die professionellen Verkünder, denen in ihrer Hilflosigkeit immer nur „Der kleine Prinz” einfällt. Grosses Aufatmen zum Schluss: Potter-Bücher sind kein Teufelszeug.

Das sehen andere anders. Im erwähnten Rundschau-Beitrag kamen besorgte Eltern aus den USA zu Wort, die ein absolutes Potterverbot ausgesprochen hatten, weil mit Hexen und schwarzer Magie nicht zu scherzen ist. Im Internet stösst man auf Schauerliches. „Satan is up to his old tricks again and the main focus is the children of the world.”, wird da vor Rowlings Machwerk gewarnt. Ich zeige die Seite dem Philosophen Alois Rust, der mir im Oktober 99 gesagt hatte: „Harry Potter MUSST du lesen!” Erstaunt stellt er fest: „Diese Leute sind ja klar der Überzeugung, es gäbe den Teufel! Die sind selber noch im Märchen drin.” Er und seine Frau haben alle Potter-Bücher verschlungen, während ihre halbwüchsigen Töchter nur die Nasen rümpften. Andere Eltern wurden bei der Lektüre allein gelassen, weil den Kindern die Geschichten schlicht zu nahe gingen. Erstaunlich oft hört man von Erwachsenen, die durch Werbung, Internet, Freunde oder gar durch ihre eigenen Eltern auf den Potterpfad fanden. Die meisten wollten aber nur mal kurz reinschauen.

„Ich war entschlossen, es nicht zu lesen”

Den deutschen Schriftsteller, Literaturkritiker und Thomas Mann-Spezialisten Michael Maar hats besonders krass erwischt:

„An einem Sonntagnachmittag um drei wollte ich den ersten Band, der in mein Arbeitszimmer geraten war (meine Tochter hatte ihn von einer Freundin geliehen bekommen), ins Kinderzimmer zurückbringen. In diesem Moment, den ich nicht vergessen werde, sagte ich mir, daß ich wenigstens einen Blick hineinwerfen könnte. Ich war entschlossen, es nicht zu lesen, das ganze Gewese um den Erfolg hatte mich abgestossen. Beim ersten störenden Satz würde ich abbrechen, ich hatte auch gar keine Zeit für solche Lektüren. Am Montag wurden die nächsten Bände von jener Freundin ausgeliehen, am Dienstag musste meine Frau mir den letzten nachkaufen, den ich Mittwoch nachts um zwei beendete. Hätte um eins etwas am Fenster geklirrt (bei der Friedhofsszene), wären meine Kinder am nächsten Tag als Halbwaisen aufgewacht.”

Ausrufe der Bewunderung

„Wie schafft man das?”, wollte ich von Michael Maar wissen. „Ich habe eben nichts anderes gemacht. Nur zwischendrin immer wieder Ausrufe der Bewunderung ausgestossen.” Das tat auch Thomas Bodmer. Im „Magazin” hatte er vor drei Jahren behauptet, J.K. Rowlings Kinderbücher seien besser geschrieben als 92% der Erwachsenenliteratur. Darauf angesprochen, ob das nicht etwas vollmundig sei, meint er: „Ich stehe absolut noch dazu. Ich denke sogar, es sind eher mehr. Kürzlich habe ich mir „Synchron” von Thomas Hürlimann angesehen und gedacht: Mein Gott, was sind das für Scheissdialoge! Viele Autoren machen es sich einfach zu leicht.” Ob denn sein Lob der genialen Konstruktion - J.K.R. hat fünf Jahre allein für die Entwicklung der Figuren und des Plots gebraucht - oder auch der Sprache gelte, antwortet er: „Es gilt für alles. Um Gernhardt zu zitieren: Einfälle haben kann jeder. Die Kunst besteht darin, wie man einen Einfall entwickelt. Darin ist sie wahnsinnig gut. Sie kann planen. Ein Beispiel: Sirius Black, eine Hauptfigur in Band III, kommt im ersten Band im ersten Kapitel vor und dann nicht mehr. Rowling sagte mir, sie habe tausende von Seiten Notizen gemacht über die Zauberwelt, sie habe sich Details aufgeschrieben, die wahrscheinlich nie in einem Buch auftauchen. ‚Ich muss das wissen, für mich, damit es in sich stimmt.’

Aschenputtel , Blyton und Lord of the Rings ..

Vergleich muss sein, und es gibt kein Genre, mit dem die Potter-Bücher nicht verglichen werden, sei es, um sie zu loben oder um sie abzutun. Dieter Petzold, Professor für Anglistik, hat für die Tagung der katholischen Akademie Rowlings Werk probeweise in verschiedenen Schubladen abgelegt:

Als Märchen oder phantastische Erzählungen kann man die Potter-Geschichten nicht bezeichnen, denn sie spielen gleichzeitig in einer erfundenen und in der normalen Welt und leben von der Spannung zwischen Normalität und Wunderbarem. Joanne K. Rowling sagt, ihr sei Fantasy fremd. Darum habe sie beim Schreiben von Band I auch plötzlich gestutzt: „This has got unicorns in it. I’m writing fantasy!”

Noch kürzer greift die Bezeichnung school stories. Zwar spielen die Potter-Romane in einem viktorianisch anmutenden Internat mit entsprechender Lehrerschaft, aber das ist nichts anderes als ein Cliché, dessen sich die Autorin augenzwinkernd bedient. Im vierten Band, nach dreieinhalb Jahren dicker Freundschaft, merkt Ron plötzlich, dass Hermine ein Mädchen ist. Das Interesse am andern Geschlecht wird naturgemäss in den nächsten Büchern zunehmen, denn die Figuren werden älter. Auch das ein wesentlicher Unterschied zu Schulgeschichten à la Enid Blyton.

Von der Spannung her kann es Harry Potter mit jedem Kriminal- oder Agentenroman aufnehmen. Thomas Bodmer schrieb in seiner Kritik zu  Band IV: „... ich versuchte die Lektüre so lange hinauszuzögern wie nur möglich. Doch im 32. Kapitel raste mein Puls, was mir bei Erwachsenenkrimis seit Jahren nicht mehr passiert ist.”

Natürlich drängen sich auch Vergleiche mit Heroic Fantasy und Bildungsromanen auf. Aber während die guten Superhelden das Böse bekämpfen ohne lange darüber nachzudenken, ist die Ambivalenz des Bösen bei Potter von Anfang an im Zentrum. Das zeigt sich bereits bei Harrys Ankunft in Hogwarts. Die Schule ist in vier Häuser aufgeteilt: Ein Hut, den die Kandidatinnen und Kandidaten aufsetzen müssen, durchleuchtet deren Charakter und schickt sie zu den ehrlichen Hufflepuffs, den fleissigen Ravenclaws, den klugen und tapferen Gryffindors oder zu den verschlagenen Slytherins, bei denen einst auch Lord Voldemort das Zaubern lernte. Bei Harry zögert der Hut zwischen den beiden letzten Häusern, schickt ihn dann aber doch nach Gryffindor, weil – und das ist entscheidend – Harry das so will. „Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.”, sagt der weise Schulleiter Dumbledore am Schluss von Band II. Ich-Findung ist beim elternlosen Harry, der elf Jahre lang nicht weiss, dass er ein Zauberer ist, ein zentrales Thema. So gesehen liegt Entwicklungroman sicher nicht falsch.

Der Philosoph Rust, der wie er sagt, die Bücher nicht analysiert sondern in Tram und Bett gierig reingezogen hat, war sehr angetan von der Komplexität der Figuren und von der psychologischen Tiefenschärfe, mit der sie gezeichnet sind. Die Designerin Lize Mifflin Schmid, die selber Kindergeschichten schrieb, lobt, wie klug und kindergerecht die Bücher aufgebaut sind. Sie hat ihren beiden Kindern sämtliche Bände drei bis viermal vorgelesen, obwohl sie anfangs fürchtete, die Tochter sei noch zu jung. Aber jede Frage, die das Kind stellte, wurde im nächsten Satz beantwortet. Mifflin schwärmt besondes von Band III und von Professor Lupin (der jeweils bei Vollmond seinem Namen alle Ehre macht und auch Rowlings Lieblingfigur ist.): „Wie da die Charaktere herausgearbeitet sind und die Freundschaft der ehemaligen Hogwarts-Schüler geschildert wird, so subtil.”

Aber eigentlich könnte man den ganzen Zauber vergessen, wäre da nicht der stets lauernde Humor, die feine Ironie. Ich selber hatte die Bücher monatelang ungelesen auf dem Schreibtisch liegen. Erst als mir nach einem komplizierten Beinbruch das Lachen vergangen war, nahm ich zögernd den ersten Band zur Hand. Ich hatte ein wenig Angst, wie immer, wenn die Gefahr droht, dass man sich auf eine grosse Kiste einlässt. Schon auf Seite 6, bei der „... Katze, die eine Strassenkarte studierte” hatte ich mein Bein und die Muggelwelt vergessen. Herrlich, wie Rowling beispielsweise in Band IV die Sensationspresse durch den Kakao zieht, nachdem sie wohl selber einschlägige Erfahrungen gesammelt hatte. Oder wie sie Autobegeisterung in der Werbung für einen neuen Rennbesen karikiert: „Jede handverlesene Birkenholzrute des Schweifs ist aerodynamich optimal abgeschliffen... Der Feuerblitz beschleunigt von 0 auf 250 Stundenkilometer in 10 Sekunden und ist mit einem unbrechbaren Bremszauber ausgestattet”.

Strafe für Nabokov

Michael Maar, der sozusagen mit dem Feuerblitz in 2 ½ Tagen durch rund 1800 Seiten Potter gedüst ist, hatte sich dabei, rein gewohnheitsmässig auch noch Notizen gemacht. Ein Essay für die Zeitung sollte es werden, ein 184 Seiten dickes Buch ist es geworden. Es trägt den Titel „Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte” und wurde ein bisschen gelobt, ein bisschen verrissen, vor allem aber ignoriert. Thomas Bodmer meint: „Maar wird dafür bestraft, dass er Harry Potter ernst genommen hat. Dass er sagt, diese Bücher haben Qualitäten, die auch ein Nabokov hat, dass nehmen ihm diese dummen S.. übel”. Auf die Frage, wie er das erlebt habe, erzählt Maar: „Einige Erwachsenen waren offensichtlich beglückt, ihre klandestine Vorliebe geteilt zu sehen. Viele meines Kreises aber kannten und kennen Harry Potter nicht. Die Intellektuellen (in Deutschland, nicht in den USA) verachten Harry Potter präventiv und die Harry Potter-Leser verachten oder ignorieren die Intellektuellen.” Wer gescheite Verlgeiche mit Nabokov, Poe, Dickens, Austen etc., verknüpft mit gelungenen Kurzfassungen von Potter I - IV lesen möchte, dem sei das Buch hiermit empfohlen. Maar spinnt darin die Geschichten spielerisch weiter und hat kürzlich als Gastprofessor in Stanford den Studierenden Examensfragen gestellt wie: „Who will die in Harry Potter, and why?” Auch eine Art, das Vakuum zu füllen.

Das lange Warten sieht Maar nur positiv: „Rowling tut das Beste, was sie machen kann, und lässt sich nicht unter Druck setzen. Sie ist eine ehrgeizige Autorin und will gute Literatur schaffen. Das ist es, was für sie zählt, nicht Marketing-Überlegungen.” Ähnlich verständnisvoll reagierten die meisten Erwachsenen, mit denen ich sprach. Lize Mifflin Schmid fürchtet allerdings, dass ihr Sohn in einem Jahr nicht mehr mitmachen wird. Er wird Band V sicher lesen, aber er wird nicht mehr mit der kleinen Schwester im Wohnzimmer herumlümmeln und Mami beim Vorlesen zuhören wollen. Und das war es, was sie in den unzähligen Lektürestunden so geschätzt hat: „Es waren nicht nur die Figuren und Geschichten, es war das Phänomen des gemeinsamen Erlebens. Als die Bücher zu Ende waren, fühlten wir alle drei, wie sich ein Loch auftat.”

Kuscheln mit Harry

Geborgenheit in der Hogwarts-Welt ist neben Spannung, Abenteuer, Witz und Spass ein bedeutender aber meist verschwiegener Teil des Genusses. Die Lehrerin Judith Kunz schickt ihre Schülerinnen vor die Tür, wenn sie sie beim Potterlesen erwischt. Nicht um sie zu bestrafen, sondern damit sie das Kapitel in Ruhe beenden können. Auf ihr eigenes Lesevergnügen angespochen, erzählt die Frau im Grossmutteralter: „Ich verkrieche mich auf der Couch, tauche ab und bin nicht mehr in der Muggel-Welt. Ich rieche sogar, wie es in Hogwarts riecht. Und der Baum vor meinem Fenster hat plötzlich auch einen unterirdischen Zugang ...”

Alois Rust fühlt sich stark in seine eigene glückliche Internatszeit zurück versetzt. „Gemeinsames Essen, Bücher durch lange Gänge schleppen,die Heimlichkeiten, es kommt mir alles so bekannt vor. Wir hatten Latein in einem schlauchartigen Raum, in dem auch noch ausgestopfte Krokodile aufbewahrt wurden. Hogwarts pur.” Und dann denkt er laut darüber nach, ob Eltern und Kindern nicht viel unnötiger Schmerz erspart bliebe, wenn die Pubertierenden sich untereinader und mit fremden Erwachsenen herumschlagen müssten. Internate haben auch ihr Gutes.

Hier Kinder, hier Erwachsene

Alban Nikolai Herbst, der Michael Maars Buch offensichtlich nicht gelesen hat, schreibt dazu: „... aber dass (Harry Potter) bei Erwachsenen so greift und griffig gemacht wird, zeigt einen Regress von erschreckendem Ausmass: Man möchte die Welt wieder so klar und rein, wie sie niemals gewesen ist.” Wahrscheinlich bin ich für Herrn Herbst der schlagende Beweis, wenn ich frage: Wo sind eigentlich die grossen Unterschiede zischen Kindheit, Jugend und Erwachsenendasein? Die Gefühle und Ängste sind die gleichen, nur unmittelbarer. Schule ist anspruchsvoller als die meisten Erwachsenenjobs. Umgekehrt schrumpft die Freiheit, die man als Jugendliche herbeisehnt, bei näherer Betrachtung gewaltig. Und was unsere Verantwortung betrifft ... Lassen wirs. Nur das milde Lächeln, mit dem wir die Kinderwelt betrachten, könnten wir uns abschminken. Und die strikte Trennung in Erwachsenen- und Kinderliteratur ebenfalls. Übrigens: Joanne K. Rowling hat einen Zettel über ihrem Pult aufgehängt, auf dem steht: „Man muss für Kinder genauso schreiben wie für Erwachsene, nur besser.”