Biografien Jean-Henri Fabre

Insektenforscher und Poet (1823 - 1915)

Er träumte von einer Welt, in der die Menschen sich von der Sonne ernähren, weil sie sich dann nicht mehr gegenseitig zerfleischen. Foie gras ass er nicht, weil ihm das Stopfen der Enten zuwider war. Tote Tiere sezieren mochte er nicht, er studierte lieber das lebende Insekt. Jean-Henri Fabre betrieb Verhaltensforschung hundert Jahre vor Konrad Lorenz und befasste sich mit der Idee des biologischen Gleichgewichts lange bevor sie Ökologie hiess. Sein wisschenschaftliches Werk ist so geschrieben, dass jeder Mensch es verstehen kann.

"Ich aber erforsche das Leben"

Ein Maimorgen. Fabre hat im Garten auf einer Yucca Hunderte von frisch geschlüpften Kreuzspinnen entdeckt und in einer Schachtel gesammelt. Im Arbeitszimmer deponiert er sie auf einem Tischchen nahe beim Fenster und stellt den kleinen Spinnen ein Reisigbündel als Kletterast zur Verfügung. "Die jungen Spinnen müssen sich trennen, sie müssen hinaus in die Ferne, und eine jede von ihnen muss sich an einer Stelle niederlassen, wo nachbarliche Konkurrenz nicht gar zu befürchten ist."

Im Garten hat er gesehen, dass die Spinnlein davonzufliegen scheinen; in der Windstille des Raumes kann er diesen Vorgang genauer beobachten: "Bald trippeln einzelne von ihnen zwischen dem Tisch und dem Fenster hin und her. Sie wandern in der Luft, im freien Raum. Aber worauf? Ist der Einfallswinkel des Tageslichts günstig, kann ich manchmal hinter dem Tierchen einen Faden wahrnehmen, einen Lichtblitz, der kurz aufleuchtet und wieder verschwindet. Nach rückwärts also besteht ein Verbindungsseil, ein Ankertau, das man bei angespannter Aufmerksamkeit gerade noch wahrnehmen kann; aber nach vorwärts, gegen das Fenster hin, gibt es nichts Sichtbares. - Man würde meinen, das Tierchen rudere im Leeren. Es vermittelt die Vorstellung eines kleinen Vogels, der, an einem Fuss festgebunden, in die Luft fliegt.

Aber hier nun trügt der Schein; ein Flug ist nicht möglich; die Spinne bedarf notwendigerweise einer Brücke um den Zwischenraum zu überqueren. Wenn ich also diese Brücke auch nicht sehen kann, so kann ich sie doch sicherlich zerstören. Mit einem Rutenhieb teile ich die Luft vor der Spinne, die im Begriffe ist, gegen das Fenster zu wandern. Eines weiteren bedarf es nicht: sogleich hört das Tierchen auf, vorzurücken, und fällt. Der unsichtbare Übergang ist unterbrochen. Mein Söhnchen, der kleine Paul, mein Gehilfe, ist ganz verdutzt ob der Wirkung meines Zauberstabs. "

Der französische Naturforscher bringt einen dazu, sich für das Schicksal winzigster Tiere zu interessieren; man ahnt längst, dass die Spinnlein auf einem besonders dünnen Faden wandern, aber nun will man wissen, wie diese Brücke zustande kommt. "Dieser unsichtbare Steg wird nicht von den Tierchen über den Abgrund geworfen; der Faden wird von einem Lufthauch mitgenommen und abgewickelt. Sobald dieser wehende Faden irgendeinen nahen Gegenstand berührt, haftet er an. Die Hängebrücke ist gespannt..."

Als Fabre diese Zeilen anfangs des 20. Jahrhunderts schrieb, war er etwa achtzig Jahre alt und wusste mehr über Insekten als irgendein anderer Mensch seiner Zeit. Doch er schildert das Leben der Insekten, als sähe er sie zum ersten Mal. Kaum je lässt er seine Leserinnen und Leser den Abstand dieses Wissens spüren, sondern holt zu einer Erklärung aus wie dieser: "Jede Spinne, die sich fortbewegt, spinnt gleichzeitig ein Sicherungsseil, das die Seiltänzerin vor einem immer möglichen Absturz bewahrt. Nach hinten ist dieser Faden doppelt, und dadurch wird er sichtbar."

Der amerikanische Schriftsteller und Lyriker William Carlos Williams (1883 - 1963) gestand: "Jean-Henri Fabre ist einer meiner Hausgötter gewesen. Sein Vorbild hat mir immer als Massstab und Richtschnur gedient. Es hat mich ruhig gemacht und einen geduldigen Fleiss in mir ausgelöst, und es hat mir, trotz meiner Unzulänglichkeiten, dauerhafte Zufriedenheit verschafft." Immer wieder haben sich Schriftsteller für Fabres Bücher begeistert. Victor Hugo nannte ihn den "Homer der Insekten". Im deutschsprachigen Raum war es der Zürcher Schriftsteller Kurt Guggenheim (1896 - 1983), der mit "Sandkorn für Sandkorn" das wohl subtilste und ergreifendste Buch über Fabre geschrieben hat. Viele Wissenschaftler dagegen nahmen es ihm übel, dass er Forschung und Literatur miteinander verknüpfte.

"Und jetzt, mein Kleiner, Gott befohlen..."

Jean-Henri Fabre kam am 21. Dezember 1823 als Kind armer Landarbeiter im südfranzösischen Saint-Léons-du-Lévezou im heutigen Departement Aveyron zur Welt, verbrachte aber die meiste Zeit bei seiner Grossmutter im Weiler Malaval. Mehr noch als die Märchen, die sie ihm erzählte, faszinierte ihn seine Umgebung. Es zog ihn zu den Blumen und Schmetterlingen "wie den Kohlweissling zum Kohl." Mit sieben Jahren kam er zu seinem Paten in die Schule. Klassenzimmer war das Wohn-, Schlaf- und Esszimmer des Lehrers, der auch noch Gutsverwalter des Schlosses, Barbier, Glöckner, Vorsänger im Kirchenchor und Aufzieher der Turmuhr war.

Weil der Vater mit seinen Unternehmungen immer wieder scheiterte, zog die Familie jahrelang immer wieder um. In Toulouse wurde der Knabe kostenlos ins Priesterseminar aufgenommen. Danach hätte er gerne in Montpellier Medizin studiert, aber dazu fehlte das Geld. Also verkaufte er Zitronen auf dem Markt und half beim Bau der Eisenbahnlinie Baucaire - Nîmes.

Bei einem Wettbewerb um ein Stipendium für das Lehrerseminar in Avignon belegte Fabre den ersten Platz. Mit 19 Jahren war er bereits Primarlehrer am Collège von Carpentras mit einem Jahresgehalt von 700 Francs.

"Die Wissenschaft, die Wissenschaft ist alles."

Im Frankreich des 19. Jahrhunderts war Lehrer kein angesehener Beruf. Der Lohn war miserabel, Rente oder Krankenversicherung gab es nicht. In den dreissig Jahren, die Fabre im Schuldienst verbrachte, änderte sich dies kaum.

Das Klassenzimmer in Carpentras erinnerte eher an ein Gefängnis: "Gewissermassen ein weiträumiger Keller, vor Feuchtigkeit triefend,...(.) Ein Brett, rundherum in die Mauer eingelassen, diente zum Sitzen; in der Mitte befanden sich ein seines Strohs beraubter Stuhl, eine Wandtafel, ein Stück Kreide."

Es fehlte an allem. Oft war die Stadt monatelang mit den Löhnen im Rückstand und die Lehrer mussten die Tür des Kassiers belagern, um wenigstens ein paar Brocken zu erhalten.

Trotzdem gab Fabre ein ganzes Monatsgehalt für ein Buch aus: "Histoire naturelle des animaux articulés" (Naturgeschichte der Gliedertiere) von Castelnau, Blanchard und Lucas. "Das Buch habe ich förmlich verschlungen, ja, das ist der richtige Ausdruck. Und während ich das Werk zum hundertsten Mal durchblätterte, flüsterte mir eine zaghafte innere Stimme undeutlich zu: Und du auch, du wirst einmal Tiere erforschen."

Noch blieb ihm kaum Zeit für sein eigentliches Interessensgebiet. Aber die Zustände an der Schule hatten auch einen Vorteil: Es gab noch keine Lehrpläne. "In jenen glückseligen Zeiten zählte der gute Wille des Lehrers noch; ...(.) An mir war es, zu handeln, wie ich es für gut hielt. Was aber konnte man tun, um den Titel Höhere Primarschule zu rechtfertigen? Bei Gott, unter anderem natürlich die Chemie unterrichten. (.) Viele meiner Schüler kommen vom Lande; sie werden dorthin zurückkehren und ihre Felder bewirtschaften. Zeigen wir ihnen also, woraus der Boden besteht und womit die Pflanze sich ernährt. Andere werden sich den gewerblichen Tätigkeiten zuwenden, als Gerber, Metallgiesser, Schnapsbrenner, Krämer von Seife und Sardellenfässchen. Erklären wir ihnen das Pökeln, die Seifensiederei, die Brennerei, das Gerben."

Der junge Lehrer Fabre, nur wenig älter als manche seiner Schüler, verstand es, auch eine Schar ungehobelter Gassenjungen zu fesseln. Oft war er seiner Klasse nur um wenige Kenntnisse, um die Lektüre einer Nacht, voraus.

"Geometer werden gemacht, Biologen werden geboren."

Am 3. Oktober 1844 verheiratete sich der noch nicht 21jährige mit der drei Jahre älteren Lehrerin Marie Césarine Villard. Von ihr wie auch von Fabres zweiter Frau erfahren wir kaum etwas. Fabre selbst erwähnt in seinen "Souvenirs" häufig seine Kinder, insbesondere seine Söhne, von seinen beiden Frauen aber spricht er nicht. In der Ehe mit Marie Villard wurden sieben Kinder geboren, die beiden ersten starben noch im Säuglingsalter. Um die Familie ernähren zu können, bereitete sich Fabre auf eine Hochschullaufbahn vor. Er bestand ein Lizenziat in Mathematik und in Physik. 1849 trat er eine Stelle als Physiklehrer am Collège in Ajaccio an.

Auf Korsika war alles neu und faszinierend. Die Insel gehörte erst seit etwa siebzig Jahren zu Frankreich; naturwissenschaftlich war sie so gut wie unerforscht. Fabre unternahm endlose Strandwanderungen, sammelte Muscheln und Schnecken und träumte von einer umfassenden Muschelkunde Korsikas. Einige Zeit beherbergte er in seinem bescheidenen Haus den Botaniker Moquin-Tandon, Professor aus Toulouse. Von ihm erhielt er seine erste und einzige Lektion in Naturgeschichte: "Einen Tag vor seiner Abreise meinte Moquin-Tandon: 'Sie beschäftigen sich mit den Muscheln; das ist etwas, aber es ist nicht genug. Vor allem müssen Sie das Tier kennenlernen. Ich will Ihnen einmal zeigen, wie man das macht.' Und dann, ausgerüstet mit einem Scherchen, das er dem Nähkorb entnommen hatte, zwei Nadeln, mit einem Stücklein Rebholz als Stiel, demonstrierte er mir im Wasser einer tiefen Schüssel die Anatomie einer Schnecke vor."

Daneben befasste sich Fabre auch mit Geometrie. An seinen Bruder Frédéric schrieb er: "Die Infinitesimalrechnungen eines Leibniz zeigen dir, dass die Architektur eines Louvre lange nicht so kunstvoll ist wie jene einer Schnecke; der ewige Geometer hat seine transzendentalen Spiralen auf das Gehäuse dieses Tieres gelegt, das die Leute essen, mit Spinat und Holländerkäse gewürzt." In einem Brief an seinen Vater heisst es über Korsika: "... all das bietet einen so grossartigen, so ergreifenden Anblick, dass, wer es einmal gesehen hat, es immer wieder sehen will."

Er sollte es nie wiedersehen. Nach vier Jahren erkrankte er an einem Sumpffieber, das er sich bei seinen Streifzügen an den Stränden geholt hatte. Er musste mit seiner Familie aufs Festland zurück.

"...Bücher, die dem Leben Richtung geben"

Nach seiner Genesung trat Fabre eine Stelle als Hilfslehrer für Physik am Gymnasium von Avignon an. Er wolle sich auf eine Professur in Mathematik vorbereiten, hatte er in seiner Bewerbung erwähnt, stattdessen erwarb er sich eine Lizenz in Naturwissenschaft. Die Prüfung, die er in Toulouse ablegte, muss triumphal gewesen sein. Eine der Fragen drehte sich um die Urzeugung, und obwohl einer der Professoren ein Verfechter dieser Theorie war, scheute sich Fabre nicht, seine eigene abweichende Meinung zu vertreten.

An einem Winterabend sass er alleine am Ofen und las in einem Buch des damaligen Nestors der Insektenkunde, Léon Dufour, über die Knotenwespe. "Neue Erkenntnisse blitzen auf wie Offenbarungen. Hübsche Käfer in einer mit Kork tapezierten Schachtel zu schichten, das war also nicht die ganze Wissenschaft. Es gab etwas Grösseres: die tiefergehende Erforschung des Aufbaus und vor allem der Eigenschaften der Tiere. Ich las da pochenden Herzens ein wunderbares Beispiel." Dufour hatte im Nest der Knotenwespe tote Prachtkäfer gefunden, auf denen die Wespe ihre Eier ablegt und die den späteren Larven als Nahrung dienen. Seltsam schien nur, dass die toten Käfer nicht verwesten.

Fabre schrieb später über diesen für ihn so wichtigen Abend: "Das Heizmaterial lag im Ofen bereit, es bedurfte nur noch des Funkens, um es zum Brennen zu bringen; die zufällige Lektüre der Schrift von Léon Dufour war dieser Funke."

Das Problem der toten Käfer liess ihn nicht los. Dufour hatte geglaubt, das Gift der Wespe konserviere sie. Fabre begann zu experimentieren: Benzin liess die Leiche mit den Fühlern zucken, Strom liess die Muskeln sich zusammenziehen. Die Käfer waren nicht tot, sie waren durch einen gezielten Stich ins Nervenzentrum gelähmt. Und wurden von den Larven bei lebendigem Leib verspeist.

Fabre verfasste ein Memorandum, das in den "Annales des Sciences naturelles" veröffentlicht wurde und Aufmerksamkeit erregte. Dufour gratulierte, das "Institut de France" verlieh ihm 1856 den Prix Montyon für experimentelle Physiologie, Darwin erwähnte ihn in der "Entstehung der Arten".

Mit Darwins Evolutionstheorie konnte sich Fabre nicht anfreunden: "Eine solche Ordnung im Lebenslauf soll aus dem Chaos entstehen, ein solches Wissen aus der Tollheit? Je mehr ich sehe, je mehr ich beobachte, umso mehr leuchtet die Intelligenz hinter dem Geheimnis der Dinge." 1910, fünf Jahre vor seinem Tod antwortete er auf die Frage nach seinem Glauben mit dem oft zitierten Satz: "Ich glaube nicht an Gott, ich sehe ihn."

"Eine Arbeit, die man nicht versteht, stösst ab!"

Noch sollten fast zwanzig Jahre vergehen, bis Fabre sich ganz seinen Forschungen widmen konnte. Aber auch in Avignon fand er Zeit für seine naturwissenschaftlichen Studien; sonntags lud er Schüler zu Exkursionen ein, abends gab er Volkschulkurse, nebenher verfasste er Schulbücher. Unterstützt wurde er vom damaligen Erziehungsminister Victor Duruy, einem Historiker und ehemaligen Lehrer, der von Fabres lebendiger Sprache begeistert war. Eines Tages zitierte er ihn nach Paris und machte ihn zum Ritter der Ehrenlegion, was auch einen Empfang durch Napoleon III mit sich brachte. Fabre fiel auf in seinem schäbigen Anzug, nannte den Kaiser mehrmals "Monsieur" anstatt "Sire" und war froh, als er wieder in seine heimatlichen Gefilde zurückkehren durfte.

Duruy hatte in Frankreich die konfessionslose Bildung eingeführt, was erstmals auch den Mädchen den Zugang zur Schule ermöglichte. Fabre gab Abendkurse für Bauern, Arbeiter und junge Mädchen und hatte damit grossen Erfolg. Die Leute drängten in die Abtei Saint-Martial in Avignon, um den kleinen Lehrer zu hören, der so anschaulich über Naturwissenschaften redete. Dem Klerus hingegen waren Fabres Kurse ein Dorn im Auge, bald war eine Verschwörung gegen ihn im Gange. Die Frömmler schrien "Skandal!" - er hatte den Mädchen von der Befruchtung der Blüten erzählt - der beliebte Volkslehrer wurde als subversiv und gefährlich verschrien und musste die Abendkurse aufgeben. Von seinen Kollegen am Gymnasium erhielt er keine Unterstützung, und Duruy war gerade selber den Angriffen der Klerikalen unterlegen und konnte ihm nicht helfen. Die alten frommen Jungfern, bei denen die Familie wohnte, setzte sie von einem Monat auf den andern auf die Strasse. Fabre war so arm, dass er nicht einmal den Umzug bezahlen konnte. Glücklicherweise half ihm der englische Philosoph John Stuart Mill, mit dem er sich auf botanischen Streifzügen angefreundet hatte, und schickte umgehend 3000 Francs.

Angewidert von all den Machenschaften gab Fabre seine Lehrerstelle auf und mietete ein einsames Haus am Stadtrand von Orange. Hier verfasste er Schulbücher, die Titel trugen wie "Der Kreisel", "Geschichte eines Holzscheits", "Die Chemie des Onkel Paul", "Die Nützlinge". In der Fabre-Biografie von Martin Auer heisst es über dieses Buch: "'Die Nützlinge' beschreibt Vögel, Säugetiere und Lurche, die geschützt werden müssen, um die Schädlinge in Schach zu halten. Erstmals deutet sich hier die Idee des biologischen Gleichgewichts an."

Herausgegeben wurden die Schulbücher vom jungen Pariser Verleger Charles Delagrave, der Fabre versprochen hatte, ihn niemals arbeitslos werden zu lassen. Zum ersten Mal verbesserte sich die finanzielle Lage.

"Du bist fortgegangen an einen besseren Aufenthaltsort"

Das Jahr 1877, Fabre war vierundfünfzig Jahre alt, brachte eine Reihe von Schicksalsschlägen. Er verlor seine Stelle als Kustos des Musée Requien in Avignon, die er jahrelang innegehabt und auch von Orange aus noch betreut hatte. In England starb sein Förderer John Stuart Mill, und am 14. September starb Fabres Lieblingssohn und Mitarbeiter Jules. Fabre benannte drei von Jules entdeckte Insekten nach ihm. Der Schock über diesen Verlust griff seine Gesundheit an, im Winter erkrankte er an einer lebensbedrohenden Lungenentzündung.

Doch er erholte sich und arbeitete mehr als zuvor. 1879 erschien der erste Band der "Souvenirs Entomologiques" mit einem Nachruf auf Jules und mit den Kapiteln "Le Scarabée sacré, le Cerceris, le Sphex, les Ammophiles, les Bembex, les Chalicodomes". Kurt Guggenheim schreibt in "Sandkorn für Sandkorn": "Die griechische Mythologie hat bei der Benennung dieser Tiere zu Gevatter gestanden, Vergil und Horaz wurden manche der bukolischen Namen entlehnt. Durch die Französisierung haben sie noch, ich weiss nicht was für eine Neigung zu Alexandrinern gewonnen, und wie manchmal konnte ich der geheimen närrischen Neigung nicht widerstehen, sie, diese Namen des Inhaltsverzeichnisses, in der Reihenfolge der Bände zu rezitieren."

Den deutschen Namen "Der Heilige Pillendreher, die Knotenwesepe, die Grabwespe, die Sandwespe, die Kreiselwespe, die Mörtelbiene", meint Guggenheim, gehe das Heroische und Romantische ab. Die Erforschung des Heiligen Pillendrehers hatte Fabre jahrzehntelang beschäftigt. Eine Fortsetzung sollte im fünften Band der "Souvenirs" erscheinen. Er räumte auf mit den Legenden über dieses Tier, die ein Wissenschaftler vom andern abgeschrieben hatte. Die Kugel aus Mist, die der Käfer dreht und über den Boden rollt, enthalte das Ei und würde in der Erde versenkt, hiess es da. Fabre fand heraus, dass die Kugel Futter ist für die Nachkommenschaft.

"Das ist es, was ich mir wünschte"

Zu Fabres Haus in Orange führte eine prachtvolle Platanenallee. Als der Besitzer diese brutal zurechtstutzen liess, nahm Fabre dies zum Anlass, die Miete zu kündigen. In Sérignan, 8 km von Orange entfernt, kaufte er ein Haus mit einem Stück Land, den heute bekannten Harmas von Sérignan. "Es ist dies ein Harmas. So bezeichnet man hierzulande ein unbebautes, steiniges Stück Boden, den der Thymian überwuchert. Die magere Erde lont die Arbeit des Pfluges nicht. Ich nannte es Eden, und im Hinblick auf das Ziel, das ich verfolge, ist der Ausdruck gerechtfertigt. Dieses verwunschene Stück Land, dem keiner auch nur eine Handvoll Rübensamen anvertrauen möchte, ist ein irdisches Paradies für die Hymenopteren (Hautflügler). Der Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Es ist etwas spät...(.) Die weiten Horizonte der Jugend sind ein niedriges, drückendes Gewölbe geworden, das von Tag zu Tag sich mehr herabsenkt. Nichts aus der Vergangenheit zurücksehnend, ausser den verlorenen Lieben, nichts zurückwünschend, nicht einmal meine zwanzig Jahre, und noch weniger etwas hoffend, bin ich jetzt an dem Punkt, wo man sich, gebrochen durch die Erfahrung der Dinge, fragt, ob es wohl der Mühe lohnt, zu leben. Mitten unter den Ruinen, die mich umgeben, ist aber ein Stück Mauerwerk auf seiner festen Grundlage stehen geblieben: meine Liebe zur wissenschaftlichen Wahrheit. Genügt das, meine geschickten Hautflügler, um den Versuch zu unternehmen, eurer Geschichte in gebührender Weise noch ein paar Seiten hinzuzufügen?"

Fabre lebte noch 35 Jahre lang in seinem Harmas. Er verwandelte das öde Stück Land in einen prachtvollen botanischen Garten. Aus der ganzen Welt liess er sich Pflanzen und Samen kommen.

Dem ersten Band der "Souvenirs" fügte Fabre noch neun weitere an. Daneben erschienen noch einige Schulbücher und, wenige Jahre vor seinem Tod, ein Band mit Gedichten in provenzalischer Sprache. Fabre hatte immer wieder Gedichte, Kinderverse und Liedchen mit einfachen Melodien geschrieben.

1885 starb Fabres erste Frau Marie-Césarine. Bald darauf liess Claire, die jüngste Tochter, sich von ihrem Geliebten entführen, um gegen den Willen des Vaters die Heirat zu erzwingen. Nun lebte nur noch die Tochter Aglaé bei ihm. Zwei Jahre später heiratete der 62-jährige seine Haushälterin Marie-Joséphine Daudel. Sie stammte aus Sérignan und war dreiundzwanzig Jahre alt. Der Skandal war perfekt. Nächtelang flogen Steine gegen die Fenster, wurde Katzenmusik gemacht und Schimpfworte gebrüllt.

Mit seiner zweiten Ehefrau hatte Fabre noch drei weitere Kinder. Der Sohn Paul-Henri, in den Büchern oft "Petit-Paul" genannt, wurde so etwas wie ein Ersatz für den verstorbenen Jules. Er wurde bald sein Mitarbeiter und lernte fotografieren. Ihm verdanken wir neben wissenschaftlichen Aufnahmen für die "édition définitive illustrée" der "Souvenirs" auch einige Familienbilder.

1959 unternahm Kurt Guggenheim eine Reise oder besser eine Pilgerfahrt nach Sérignan. Er stand in Fabres Arbeitszimmer und betrachtete den roten Klinkerboden, der rund um den grossen Tisch eine graue Spur aufwies. "'Ja, das ist die Spur seiner Schritte', erklärte mir der Wärter, der zurückgekommen war, 'wissen Sie, immer wenn er sein Sujet im Kopfe hatte, lief er um den Tisch herum, stundenlang, unaufhörlich, und dann setzte er sich hin und schrieb; nie machte er ein Brouillon, einen Entwurf, alles war sofort endgültig. Sie sehen es auch, er brachte keine Korrekturen an. Aber wenn er arbeitete, mussten wir ganz still sein im Hause, silence absolu!'

Ich blickte den Mann an, es dämmerte mir etwas auf.

'Sie sind?...'

'Aber ja, ich bin sein Sohn aus zweiter Ehe. Hier in diesem Hause wurde ich vor mehr als siebzig Jahren geboren. Je suis Petit-Paul.'

'Vous êtes Petit-Paul! Monsieur Fabre...'

Ich fand die Worte nicht, ich drückte ihm die Hand, den Arm, schaute ihm ins Gesicht, suchte in ihm nach seines Vaters Zügen.

'Sie können es nicht wissen, was es mir bedeutet, Sie hier zu finden.(.) Sie können es nicht wissen, Monsieur Fabre, Ihr Vater, was er mir bedeutet...'

Ich stotterte in der Freude, der Aufregung, der Ergriffenheit an einem Satz, an einer Aussage herum. Aber natürlich brachte ich nichts Vernünftiges heraus. Auch jetzt, da ich es gemächlich, überlegt, niederschreiben könnte, fällt es mir schwer auszudrücken, was mich bewegte. Das Werk, nicht wahr, das Werk Fabres, das Jahrzehnte hindurch mich begleitet hatte, sein Geist, seine Ausstrahlung, sie gehörten für mich nicht einer stofflichen Wirklichkeit an, sondern dem Traum, der Sehnsucht, der Weite, der Ferne, einer gedanklichen Welt. (.)

Aber dass ich nun vor diesem Manne stand, vor einem Monsieur Fabre, dem Sohne - (.) es kam mir vor, als wäre ich auf einmal wie durch ein Kettenglied mit dem Grossen persönlich verbunden, und auf eine andere Weise als über den Geist."

Guggenheim selbst fand durch die Lektüre der "Souvenirs" nicht nur aus einer tiefen Schaffenskrise heraus, sondern sie beeinflusste sein ganzes Werk und vor allem sein Leben. "Sandkorn für Sandkorn" verwebt die eigene Biografie mit der Fabres auf unnachahmliche Weise, ist aber nicht durchwegs in dem ehrfurchtsvollen Ton des oben Zitierten gehalten, sondern auch voll feiner Selbstironie.

Auch der 1951 geborene Autor Martin Auer, Verfasser einer Fabre-Biografie, ist voller Bewunderung für den französischen Wissenschaftler. Er unterstreicht die Modernität des Pädagogen, der vor über hundert Jahren Schulbücher verfasst hatte, wie wir sie selber noch vor wenigen Jahrzehnten vermissten. Er zeigt Fabre als Vordenker der Ökologie und als Wegbereiter einer Verhaltensforschung, wie sie erst viel später von Lorenz und Tinbergen weitergeführt wurde. Auer macht aber auch deutlich, dass dieser Jean-Henri Fabre nicht der kauzige Eremit war, als den man ihn gerne sah, sondern dass da eine ganze Familie und ein paar Angestellte rund um die Uhr eingespannt waren, damit das Unternehmen Fabre reibungslos funktionieren konnte. Da waren die Kinder, die eigenen und die aus der Nachbarschaft, die Insekten sammelten, Terrarien beaufsichtigten und allerlei Handlangerdienste ausführten, und die auf Zehenspitzen gehen mussten, wenn der Alte am Schreiben war. Da waren die beiden Ehefrauen, die nirgends erwähnt wurden, aber gewiss ihren Teil beitrugen.

Man tut dem Menschen Fabre bestimmt nicht unrecht, wenn man ihn als Patriarchen bezeichnet, dessen Wünschen sich alle zu unterordnen hatten. Wenn seine Töchter Heiratsabsichten äusserten, legte er sich erst einmal quer. Dem Sohn Paul verbot er Tanzabende und das Radfahren.

"Ein wenig mehr, und die Geigen wären zu spät gekommen"

Fabres Lebensabend war alles andere als sorglos. 1912 starb seine zweite, viel jüngere Frau Marie-Joséphine. Seine Schulbücher waren nicht mehr gefragt, die Einkünfte versiegten. Er sah sich gezwungen, seine Pilzbilder zu verkaufen. Von jeher hatten ihm die Formen und Farben der Pilze gefallen und er hatte angefangen, sie zu malen. Nun besass er einige hundert Aquarelle, die er selber zwar als Werke eines Sonntagsmalers bezeichnete, was sie aber keineswegs sind. Als Käufer meldete sich der gefeierte Dichter der Provence, Frédéric Mistral. Er lebte nur wenige Kilometer von Fabre entfernt, war fast gleich alt und wollte den Forscher noch zu seinen Lebzeiten kennen lernen. Der Handel kam nicht zustande, aber Mistral setzte sich beim Präfekten dafür ein, dass dem bedürftigen Fabre eine jährliche Rente gezahlt wurde. Auch G.V. Legros, sein Freund und erster Biograph, wollte ihm helfen, wollte dass der grosse Mann endlich gebührend gefeiert wurde und warb überall im Land um Unterstützung. Sie kam weniger von den Wissenschaftlern als von den Dichtern, vor allem von Romain Rolland, Edmond Rostand und Maurice Maeterlinck. Am 3. April 1910 ging in Sérignan zu Ehren von Fabre ein grosses Fest über die Bühne mit viel Prominenz, mit Bankett, Reden und Orden, darunter die Linné-Medaille der königlichen Akademie Stockholm. Auch die Schweiz war vertreten und verlieh Fabre die Ehrenmitgliedschaft der Universität Genf. Er wurde vom Ritter zum Offizier der Ehrenlegion befördert und 1912 sowie 1914 für den Nobelpreis vorgeschlagen, nicht etwa für Naturwissenschaft, sondern für Literatur. Der Rummel um seine Person war auf einmal gross, sogar der Präsident der Republik, Raimond Poincaré stattete ihm einen Besuch ab.

Jean-Henri Fabre starb am 11. Oktober 1915. Sein Arbeitszimmer im ersten Stock des Harmas sieht noch genauso aus, wie er es verlassen hat. Der schwarze Filzhut, den er ständig trug und der ihn vor der sengenden provenzalischen Sonne schützte, wenn er stundenlang auf der Erde lag, um eine Wespe zu beobachten, ist ebenso zu sehen wie das Tischchen. "Gross wie ein Taschentuch, auf der rechten Seite das Tintenfläschchen, linker Hand das offene Heft, bot mein Tischchen gerade so viel Platz, dass man auf ihm schreiben konnte. Wie liebe ich das kleine Möbelstück, eine der ersten Erwerbungen meines jungen Haushaltes. Kleine armselige Tischplatte, mehr als ein halbes Jahrhundert bin ich dir treu geblieben. Tintenbekleckst und vom Messer gekerbt, dienst du heute noch meiner Prosa als Unterlage, wie meinen Mathematikaufgaben vor fünzig Jahren. Von Zeit zu Zeit höre ich den Hobelschlag des Holzwurms, des Ausbeuters alter Möbel. Von Jahr zu Jahr bohrt er neue Gänge und nimmt dir etwas von deiner Festigkeit; die alten münden mit kleinen runden Löchlein ins Freie. Ein Fremdling, ein anderes Insekt, bemächtigt sich ihrer, ausgezeichnete Wohnstätten, die sie sind, und ohne eigene Mühe errichtet. Ganze Völkerstämme beuten dich aus, lieber alter Tisch, ich schreibe auf einem Gewimmel von Getier. Keine Unterlage passt besser, um darauf die Erinnerungen eines Insektenforschers niederzuschreiben." Eine japanische Firma soll das kleine Tischchen des Gelehrten nachgebaut und auf Anhieb 10'000 Stück davon abgesetzt haben. Ebenfalls in Japan sollen 2 Millionen Exemplare der "Souvenirs" verkauft worden und eine CD mit Fabres Liedern erschienen sein.

Viele von Fabres wissenschaftlichen Erkenntnissen wurden später von der Forschung bestätigt. Aber das ist nicht der Grund, warum er heute noch gelesen wird. "Es gibt in dem gewaltigen Werk schlechthin keinen Satz", schreibt Kurt Guggenheim, "den nicht ein fünfzehnjähriger Schüler verstehen konnte; dabei bestand dieses Werk vor den Koryphäen der Wissenschaft. Im Grunde genommen wollte er die Natur nicht erklären, sondern bewundern.“

Quellen:
Die „Erinnerungen eines Insektenforschers“, Band I – X wurden bei Matthes & Seitz, Berlin, neu aufgelegt.
Martin Auer: "Ich aber erforsche das Leben", Die Lebensgeschichte des Jean-Henri Fabre, Beltz & Gelberg
Kurt Guggenheim, Werke II, "Sandkorn für Sandkorn",Huber

Biografien Jean-Henri Fabre

Insektenforscher und Poet (1823 - 1915)

Er träumte von einer Welt, in der die Menschen sich von der Sonne ernähren, weil sie sich dann nicht mehr gegenseitig zerfleischen. Foie gras ass er nicht, weil ihm das Stopfen der Enten zuwider war. Tote Tiere sezieren mochte er nicht, er studierte lieber das lebende Insekt. Jean-Henri Fabre betrieb Verhaltensforschung hundert Jahre vor Konrad Lorenz und befasste sich mit der Idee des biologischen Gleichgewichts lange bevor sie Ökologie hiess. Sein wisschenschaftliches Werk ist so geschrieben, dass jeder Mensch es verstehen kann.

"Ich aber erforsche das Leben"

Ein Maimorgen. Fabre hat im Garten auf einer Yucca Hunderte von frisch geschlüpften Kreuzspinnen entdeckt und in einer Schachtel gesammelt. Im Arbeitszimmer deponiert er sie auf einem Tischchen nahe beim Fenster und stellt den kleinen Spinnen ein Reisigbündel als Kletterast zur Verfügung. "Die jungen Spinnen müssen sich trennen, sie müssen hinaus in die Ferne, und eine jede von ihnen muss sich an einer Stelle niederlassen, wo nachbarliche Konkurrenz nicht gar zu befürchten ist."

Im Garten hat er gesehen, dass die Spinnlein davonzufliegen scheinen; in der Windstille des Raumes kann er diesen Vorgang genauer beobachten: "Bald trippeln einzelne von ihnen zwischen dem Tisch und dem Fenster hin und her. Sie wandern in der Luft, im freien Raum. Aber worauf? Ist der Einfallswinkel des Tageslichts günstig, kann ich manchmal hinter dem Tierchen einen Faden wahrnehmen, einen Lichtblitz, der kurz aufleuchtet und wieder verschwindet. Nach rückwärts also besteht ein Verbindungsseil, ein Ankertau, das man bei angespannter Aufmerksamkeit gerade noch wahrnehmen kann; aber nach vorwärts, gegen das Fenster hin, gibt es nichts Sichtbares. - Man würde meinen, das Tierchen rudere im Leeren. Es vermittelt die Vorstellung eines kleinen Vogels, der, an einem Fuss festgebunden, in die Luft fliegt.

Aber hier nun trügt der Schein; ein Flug ist nicht möglich; die Spinne bedarf notwendigerweise einer Brücke um den Zwischenraum zu überqueren. Wenn ich also diese Brücke auch nicht sehen kann, so kann ich sie doch sicherlich zerstören. Mit einem Rutenhieb teile ich die Luft vor der Spinne, die im Begriffe ist, gegen das Fenster zu wandern. Eines weiteren bedarf es nicht: sogleich hört das Tierchen auf, vorzurücken, und fällt. Der unsichtbare Übergang ist unterbrochen. Mein Söhnchen, der kleine Paul, mein Gehilfe, ist ganz verdutzt ob der Wirkung meines Zauberstabs. "

Der französische Naturforscher bringt einen dazu, sich für das Schicksal winzigster Tiere zu interessieren; man ahnt längst, dass die Spinnlein auf einem besonders dünnen Faden wandern, aber nun will man wissen, wie diese Brücke zustande kommt. "Dieser unsichtbare Steg wird nicht von den Tierchen über den Abgrund geworfen; der Faden wird von einem Lufthauch mitgenommen und abgewickelt. Sobald dieser wehende Faden irgendeinen nahen Gegenstand berührt, haftet er an. Die Hängebrücke ist gespannt..."

Als Fabre diese Zeilen anfangs des 20. Jahrhunderts schrieb, war er etwa achtzig Jahre alt und wusste mehr über Insekten als irgendein anderer Mensch seiner Zeit. Doch er schildert das Leben der Insekten, als sähe er sie zum ersten Mal. Kaum je lässt er seine Leserinnen und Leser den Abstand dieses Wissens spüren, sondern holt zu einer Erklärung aus wie dieser: "Jede Spinne, die sich fortbewegt, spinnt gleichzeitig ein Sicherungsseil, das die Seiltänzerin vor einem immer möglichen Absturz bewahrt. Nach hinten ist dieser Faden doppelt, und dadurch wird er sichtbar."

Der amerikanische Schriftsteller und Lyriker William Carlos Williams (1883 - 1963) gestand: "Jean-Henri Fabre ist einer meiner Hausgötter gewesen. Sein Vorbild hat mir immer als Massstab und Richtschnur gedient. Es hat mich ruhig gemacht und einen geduldigen Fleiss in mir ausgelöst, und es hat mir, trotz meiner Unzulänglichkeiten, dauerhafte Zufriedenheit verschafft." Immer wieder haben sich Schriftsteller für Fabres Bücher begeistert. Victor Hugo nannte ihn den "Homer der Insekten". Im deutschsprachigen Raum war es der Zürcher Schriftsteller Kurt Guggenheim (1896 - 1983), der mit "Sandkorn für Sandkorn" das wohl subtilste und ergreifendste Buch über Fabre geschrieben hat. Viele Wissenschaftler dagegen nahmen es ihm übel, dass er Forschung und Literatur miteinander verknüpfte.

"Und jetzt, mein Kleiner, Gott befohlen..."

Jean-Henri Fabre kam am 21. Dezember 1823 als Kind armer Landarbeiter im südfranzösischen Saint-Léons-du-Lévezou im heutigen Departement Aveyron zur Welt, verbrachte aber die meiste Zeit bei seiner Grossmutter im Weiler Malaval. Mehr noch als die Märchen, die sie ihm erzählte, faszinierte ihn seine Umgebung. Es zog ihn zu den Blumen und Schmetterlingen "wie den Kohlweissling zum Kohl." Mit sieben Jahren kam er zu seinem Paten in die Schule. Klassenzimmer war das Wohn-, Schlaf- und Esszimmer des Lehrers, der auch noch Gutsverwalter des Schlosses, Barbier, Glöckner, Vorsänger im Kirchenchor und Aufzieher der Turmuhr war.

Weil der Vater mit seinen Unternehmungen immer wieder scheiterte, zog die Familie jahrelang immer wieder um. In Toulouse wurde der Knabe kostenlos ins Priesterseminar aufgenommen. Danach hätte er gerne in Montpellier Medizin studiert, aber dazu fehlte das Geld. Also verkaufte er Zitronen auf dem Markt und half beim Bau der Eisenbahnlinie Baucaire - Nîmes.

Bei einem Wettbewerb um ein Stipendium für das Lehrerseminar in Avignon belegte Fabre den ersten Platz. Mit 19 Jahren war er bereits Primarlehrer am Collège von Carpentras mit einem Jahresgehalt von 700 Francs.

"Die Wissenschaft, die Wissenschaft ist alles."

Im Frankreich des 19. Jahrhunderts war Lehrer kein angesehener Beruf. Der Lohn war miserabel, Rente oder Krankenversicherung gab es nicht. In den dreissig Jahren, die Fabre im Schuldienst verbrachte, änderte sich dies kaum.

Das Klassenzimmer in Carpentras erinnerte eher an ein Gefängnis: "Gewissermassen ein weiträumiger Keller, vor Feuchtigkeit triefend,...(.) Ein Brett, rundherum in die Mauer eingelassen, diente zum Sitzen; in der Mitte befanden sich ein seines Strohs beraubter Stuhl, eine Wandtafel, ein Stück Kreide."

Es fehlte an allem. Oft war die Stadt monatelang mit den Löhnen im Rückstand und die Lehrer mussten die Tür des Kassiers belagern, um wenigstens ein paar Brocken zu erhalten.

Trotzdem gab Fabre ein ganzes Monatsgehalt für ein Buch aus: "Histoire naturelle des animaux articulés" (Naturgeschichte der Gliedertiere) von Castelnau, Blanchard und Lucas. "Das Buch habe ich förmlich verschlungen, ja, das ist der richtige Ausdruck. Und während ich das Werk zum hundertsten Mal durchblätterte, flüsterte mir eine zaghafte innere Stimme undeutlich zu: Und du auch, du wirst einmal Tiere erforschen."

Noch blieb ihm kaum Zeit für sein eigentliches Interessensgebiet. Aber die Zustände an der Schule hatten auch einen Vorteil: Es gab noch keine Lehrpläne. "In jenen glückseligen Zeiten zählte der gute Wille des Lehrers noch; ...(.) An mir war es, zu handeln, wie ich es für gut hielt. Was aber konnte man tun, um den Titel Höhere Primarschule zu rechtfertigen? Bei Gott, unter anderem natürlich die Chemie unterrichten. (.) Viele meiner Schüler kommen vom Lande; sie werden dorthin zurückkehren und ihre Felder bewirtschaften. Zeigen wir ihnen also, woraus der Boden besteht und womit die Pflanze sich ernährt. Andere werden sich den gewerblichen Tätigkeiten zuwenden, als Gerber, Metallgiesser, Schnapsbrenner, Krämer von Seife und Sardellenfässchen. Erklären wir ihnen das Pökeln, die Seifensiederei, die Brennerei, das Gerben."

Der junge Lehrer Fabre, nur wenig älter als manche seiner Schüler, verstand es, auch eine Schar ungehobelter Gassenjungen zu fesseln. Oft war er seiner Klasse nur um wenige Kenntnisse, um die Lektüre einer Nacht, voraus.

"Geometer werden gemacht, Biologen werden geboren."

Am 3. Oktober 1844 verheiratete sich der noch nicht 21jährige mit der drei Jahre älteren Lehrerin Marie Césarine Villard. Von ihr wie auch von Fabres zweiter Frau erfahren wir kaum etwas. Fabre selbst erwähnt in seinen "Souvenirs" häufig seine Kinder, insbesondere seine Söhne, von seinen beiden Frauen aber spricht er nicht. In der Ehe mit Marie Villard wurden sieben Kinder geboren, die beiden ersten starben noch im Säuglingsalter. Um die Familie ernähren zu können, bereitete sich Fabre auf eine Hochschullaufbahn vor. Er bestand ein Lizenziat in Mathematik und in Physik. 1849 trat er eine Stelle als Physiklehrer am Collège in Ajaccio an.

Auf Korsika war alles neu und faszinierend. Die Insel gehörte erst seit etwa siebzig Jahren zu Frankreich; naturwissenschaftlich war sie so gut wie unerforscht. Fabre unternahm endlose Strandwanderungen, sammelte Muscheln und Schnecken und träumte von einer umfassenden Muschelkunde Korsikas. Einige Zeit beherbergte er in seinem bescheidenen Haus den Botaniker Moquin-Tandon, Professor aus Toulouse. Von ihm erhielt er seine erste und einzige Lektion in Naturgeschichte: "Einen Tag vor seiner Abreise meinte Moquin-Tandon: 'Sie beschäftigen sich mit den Muscheln; das ist etwas, aber es ist nicht genug. Vor allem müssen Sie das Tier kennenlernen. Ich will Ihnen einmal zeigen, wie man das macht.' Und dann, ausgerüstet mit einem Scherchen, das er dem Nähkorb entnommen hatte, zwei Nadeln, mit einem Stücklein Rebholz als Stiel, demonstrierte er mir im Wasser einer tiefen Schüssel die Anatomie einer Schnecke vor."

Daneben befasste sich Fabre auch mit Geometrie. An seinen Bruder Frédéric schrieb er: "Die Infinitesimalrechnungen eines Leibniz zeigen dir, dass die Architektur eines Louvre lange nicht so kunstvoll ist wie jene einer Schnecke; der ewige Geometer hat seine transzendentalen Spiralen auf das Gehäuse dieses Tieres gelegt, das die Leute essen, mit Spinat und Holländerkäse gewürzt." In einem Brief an seinen Vater heisst es über Korsika: "... all das bietet einen so grossartigen, so ergreifenden Anblick, dass, wer es einmal gesehen hat, es immer wieder sehen will."

Er sollte es nie wiedersehen. Nach vier Jahren erkrankte er an einem Sumpffieber, das er sich bei seinen Streifzügen an den Stränden geholt hatte. Er musste mit seiner Familie aufs Festland zurück.

"...Bücher, die dem Leben Richtung geben"

Nach seiner Genesung trat Fabre eine Stelle als Hilfslehrer für Physik am Gymnasium von Avignon an. Er wolle sich auf eine Professur in Mathematik vorbereiten, hatte er in seiner Bewerbung erwähnt, stattdessen erwarb er sich eine Lizenz in Naturwissenschaft. Die Prüfung, die er in Toulouse ablegte, muss triumphal gewesen sein. Eine der Fragen drehte sich um die Urzeugung, und obwohl einer der Professoren ein Verfechter dieser Theorie war, scheute sich Fabre nicht, seine eigene abweichende Meinung zu vertreten.

An einem Winterabend sass er alleine am Ofen und las in einem Buch des damaligen Nestors der Insektenkunde, Léon Dufour, über die Knotenwespe. "Neue Erkenntnisse blitzen auf wie Offenbarungen. Hübsche Käfer in einer mit Kork tapezierten Schachtel zu schichten, das war also nicht die ganze Wissenschaft. Es gab etwas Grösseres: die tiefergehende Erforschung des Aufbaus und vor allem der Eigenschaften der Tiere. Ich las da pochenden Herzens ein wunderbares Beispiel." Dufour hatte im Nest der Knotenwespe tote Prachtkäfer gefunden, auf denen die Wespe ihre Eier ablegt und die den späteren Larven als Nahrung dienen. Seltsam schien nur, dass die toten Käfer nicht verwesten.

Fabre schrieb später über diesen für ihn so wichtigen Abend: "Das Heizmaterial lag im Ofen bereit, es bedurfte nur noch des Funkens, um es zum Brennen zu bringen; die zufällige Lektüre der Schrift von Léon Dufour war dieser Funke."

Das Problem der toten Käfer liess ihn nicht los. Dufour hatte geglaubt, das Gift der Wespe konserviere sie. Fabre begann zu experimentieren: Benzin liess die Leiche mit den Fühlern zucken, Strom liess die Muskeln sich zusammenziehen. Die Käfer waren nicht tot, sie waren durch einen gezielten Stich ins Nervenzentrum gelähmt. Und wurden von den Larven bei lebendigem Leib verspeist.

Fabre verfasste ein Memorandum, das in den "Annales des Sciences naturelles" veröffentlicht wurde und Aufmerksamkeit erregte. Dufour gratulierte, das "Institut de France" verlieh ihm 1856 den Prix Montyon für experimentelle Physiologie, Darwin erwähnte ihn in der "Entstehung der Arten".

Mit Darwins Evolutionstheorie konnte sich Fabre nicht anfreunden: "Eine solche Ordnung im Lebenslauf soll aus dem Chaos entstehen, ein solches Wissen aus der Tollheit? Je mehr ich sehe, je mehr ich beobachte, umso mehr leuchtet die Intelligenz hinter dem Geheimnis der Dinge." 1910, fünf Jahre vor seinem Tod antwortete er auf die Frage nach seinem Glauben mit dem oft zitierten Satz: "Ich glaube nicht an Gott, ich sehe ihn."

"Eine Arbeit, die man nicht versteht, stösst ab!"

Noch sollten fast zwanzig Jahre vergehen, bis Fabre sich ganz seinen Forschungen widmen konnte. Aber auch in Avignon fand er Zeit für seine naturwissenschaftlichen Studien; sonntags lud er Schüler zu Exkursionen ein, abends gab er Volkschulkurse, nebenher verfasste er Schulbücher. Unterstützt wurde er vom damaligen Erziehungsminister Victor Duruy, einem Historiker und ehemaligen Lehrer, der von Fabres lebendiger Sprache begeistert war. Eines Tages zitierte er ihn nach Paris und machte ihn zum Ritter der Ehrenlegion, was auch einen Empfang durch Napoleon III mit sich brachte. Fabre fiel auf in seinem schäbigen Anzug, nannte den Kaiser mehrmals "Monsieur" anstatt "Sire" und war froh, als er wieder in seine heimatlichen Gefilde zurückkehren durfte.

Duruy hatte in Frankreich die konfessionslose Bildung eingeführt, was erstmals auch den Mädchen den Zugang zur Schule ermöglichte. Fabre gab Abendkurse für Bauern, Arbeiter und junge Mädchen und hatte damit grossen Erfolg. Die Leute drängten in die Abtei Saint-Martial in Avignon, um den kleinen Lehrer zu hören, der so anschaulich über Naturwissenschaften redete. Dem Klerus hingegen waren Fabres Kurse ein Dorn im Auge, bald war eine Verschwörung gegen ihn im Gange. Die Frömmler schrien "Skandal!" - er hatte den Mädchen von der Befruchtung der Blüten erzählt - der beliebte Volkslehrer wurde als subversiv und gefährlich verschrien und musste die Abendkurse aufgeben. Von seinen Kollegen am Gymnasium erhielt er keine Unterstützung, und Duruy war gerade selber den Angriffen der Klerikalen unterlegen und konnte ihm nicht helfen. Die alten frommen Jungfern, bei denen die Familie wohnte, setzte sie von einem Monat auf den andern auf die Strasse. Fabre war so arm, dass er nicht einmal den Umzug bezahlen konnte. Glücklicherweise half ihm der englische Philosoph John Stuart Mill, mit dem er sich auf botanischen Streifzügen angefreundet hatte, und schickte umgehend 3000 Francs.

Angewidert von all den Machenschaften gab Fabre seine Lehrerstelle auf und mietete ein einsames Haus am Stadtrand von Orange. Hier verfasste er Schulbücher, die Titel trugen wie "Der Kreisel", "Geschichte eines Holzscheits", "Die Chemie des Onkel Paul", "Die Nützlinge". In der Fabre-Biografie von Martin Auer heisst es über dieses Buch: "'Die Nützlinge' beschreibt Vögel, Säugetiere und Lurche, die geschützt werden müssen, um die Schädlinge in Schach zu halten. Erstmals deutet sich hier die Idee des biologischen Gleichgewichts an."

Herausgegeben wurden die Schulbücher vom jungen Pariser Verleger Charles Delagrave, der Fabre versprochen hatte, ihn niemals arbeitslos werden zu lassen. Zum ersten Mal verbesserte sich die finanzielle Lage.

"Du bist fortgegangen an einen besseren Aufenthaltsort"

Das Jahr 1877, Fabre war vierundfünfzig Jahre alt, brachte eine Reihe von Schicksalsschlägen. Er verlor seine Stelle als Kustos des Musée Requien in Avignon, die er jahrelang innegehabt und auch von Orange aus noch betreut hatte. In England starb sein Förderer John Stuart Mill, und am 14. September starb Fabres Lieblingssohn und Mitarbeiter Jules. Fabre benannte drei von Jules entdeckte Insekten nach ihm. Der Schock über diesen Verlust griff seine Gesundheit an, im Winter erkrankte er an einer lebensbedrohenden Lungenentzündung.

Doch er erholte sich und arbeitete mehr als zuvor. 1879 erschien der erste Band der "Souvenirs Entomologiques" mit einem Nachruf auf Jules und mit den Kapiteln "Le Scarabée sacré, le Cerceris, le Sphex, les Ammophiles, les Bembex, les Chalicodomes". Kurt Guggenheim schreibt in "Sandkorn für Sandkorn": "Die griechische Mythologie hat bei der Benennung dieser Tiere zu Gevatter gestanden, Vergil und Horaz wurden manche der bukolischen Namen entlehnt. Durch die Französisierung haben sie noch, ich weiss nicht was für eine Neigung zu Alexandrinern gewonnen, und wie manchmal konnte ich der geheimen närrischen Neigung nicht widerstehen, sie, diese Namen des Inhaltsverzeichnisses, in der Reihenfolge der Bände zu rezitieren."

Den deutschen Namen "Der Heilige Pillendreher, die Knotenwesepe, die Grabwespe, die Sandwespe, die Kreiselwespe, die Mörtelbiene", meint Guggenheim, gehe das Heroische und Romantische ab. Die Erforschung des Heiligen Pillendrehers hatte Fabre jahrzehntelang beschäftigt. Eine Fortsetzung sollte im fünften Band der "Souvenirs" erscheinen. Er räumte auf mit den Legenden über dieses Tier, die ein Wissenschaftler vom andern abgeschrieben hatte. Die Kugel aus Mist, die der Käfer dreht und über den Boden rollt, enthalte das Ei und würde in der Erde versenkt, hiess es da. Fabre fand heraus, dass die Kugel Futter ist für die Nachkommenschaft.

"Das ist es, was ich mir wünschte"

Zu Fabres Haus in Orange führte eine prachtvolle Platanenallee. Als der Besitzer diese brutal zurechtstutzen liess, nahm Fabre dies zum Anlass, die Miete zu kündigen. In Sérignan, 8 km von Orange entfernt, kaufte er ein Haus mit einem Stück Land, den heute bekannten Harmas von Sérignan. "Es ist dies ein Harmas. So bezeichnet man hierzulande ein unbebautes, steiniges Stück Boden, den der Thymian überwuchert. Die magere Erde lont die Arbeit des Pfluges nicht. Ich nannte es Eden, und im Hinblick auf das Ziel, das ich verfolge, ist der Ausdruck gerechtfertigt. Dieses verwunschene Stück Land, dem keiner auch nur eine Handvoll Rübensamen anvertrauen möchte, ist ein irdisches Paradies für die Hymenopteren (Hautflügler). Der Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Es ist etwas spät...(.) Die weiten Horizonte der Jugend sind ein niedriges, drückendes Gewölbe geworden, das von Tag zu Tag sich mehr herabsenkt. Nichts aus der Vergangenheit zurücksehnend, ausser den verlorenen Lieben, nichts zurückwünschend, nicht einmal meine zwanzig Jahre, und noch weniger etwas hoffend, bin ich jetzt an dem Punkt, wo man sich, gebrochen durch die Erfahrung der Dinge, fragt, ob es wohl der Mühe lohnt, zu leben. Mitten unter den Ruinen, die mich umgeben, ist aber ein Stück Mauerwerk auf seiner festen Grundlage stehen geblieben: meine Liebe zur wissenschaftlichen Wahrheit. Genügt das, meine geschickten Hautflügler, um den Versuch zu unternehmen, eurer Geschichte in gebührender Weise noch ein paar Seiten hinzuzufügen?"

Fabre lebte noch 35 Jahre lang in seinem Harmas. Er verwandelte das öde Stück Land in einen prachtvollen botanischen Garten. Aus der ganzen Welt liess er sich Pflanzen und Samen kommen.

Dem ersten Band der "Souvenirs" fügte Fabre noch neun weitere an. Daneben erschienen noch einige Schulbücher und, wenige Jahre vor seinem Tod, ein Band mit Gedichten in provenzalischer Sprache. Fabre hatte immer wieder Gedichte, Kinderverse und Liedchen mit einfachen Melodien geschrieben.

1885 starb Fabres erste Frau Marie-Césarine. Bald darauf liess Claire, die jüngste Tochter, sich von ihrem Geliebten entführen, um gegen den Willen des Vaters die Heirat zu erzwingen. Nun lebte nur noch die Tochter Aglaé bei ihm. Zwei Jahre später heiratete der 62-jährige seine Haushälterin Marie-Joséphine Daudel. Sie stammte aus Sérignan und war dreiundzwanzig Jahre alt. Der Skandal war perfekt. Nächtelang flogen Steine gegen die Fenster, wurde Katzenmusik gemacht und Schimpfworte gebrüllt.

Mit seiner zweiten Ehefrau hatte Fabre noch drei weitere Kinder. Der Sohn Paul-Henri, in den Büchern oft "Petit-Paul" genannt, wurde so etwas wie ein Ersatz für den verstorbenen Jules. Er wurde bald sein Mitarbeiter und lernte fotografieren. Ihm verdanken wir neben wissenschaftlichen Aufnahmen für die "édition définitive illustrée" der "Souvenirs" auch einige Familienbilder.

1959 unternahm Kurt Guggenheim eine Reise oder besser eine Pilgerfahrt nach Sérignan. Er stand in Fabres Arbeitszimmer und betrachtete den roten Klinkerboden, der rund um den grossen Tisch eine graue Spur aufwies. "'Ja, das ist die Spur seiner Schritte', erklärte mir der Wärter, der zurückgekommen war, 'wissen Sie, immer wenn er sein Sujet im Kopfe hatte, lief er um den Tisch herum, stundenlang, unaufhörlich, und dann setzte er sich hin und schrieb; nie machte er ein Brouillon, einen Entwurf, alles war sofort endgültig. Sie sehen es auch, er brachte keine Korrekturen an. Aber wenn er arbeitete, mussten wir ganz still sein im Hause, silence absolu!'

Ich blickte den Mann an, es dämmerte mir etwas auf.

'Sie sind?...'

'Aber ja, ich bin sein Sohn aus zweiter Ehe. Hier in diesem Hause wurde ich vor mehr als siebzig Jahren geboren. Je suis Petit-Paul.'

'Vous êtes Petit-Paul! Monsieur Fabre...'

Ich fand die Worte nicht, ich drückte ihm die Hand, den Arm, schaute ihm ins Gesicht, suchte in ihm nach seines Vaters Zügen.

'Sie können es nicht wissen, was es mir bedeutet, Sie hier zu finden.(.) Sie können es nicht wissen, Monsieur Fabre, Ihr Vater, was er mir bedeutet...'

Ich stotterte in der Freude, der Aufregung, der Ergriffenheit an einem Satz, an einer Aussage herum. Aber natürlich brachte ich nichts Vernünftiges heraus. Auch jetzt, da ich es gemächlich, überlegt, niederschreiben könnte, fällt es mir schwer auszudrücken, was mich bewegte. Das Werk, nicht wahr, das Werk Fabres, das Jahrzehnte hindurch mich begleitet hatte, sein Geist, seine Ausstrahlung, sie gehörten für mich nicht einer stofflichen Wirklichkeit an, sondern dem Traum, der Sehnsucht, der Weite, der Ferne, einer gedanklichen Welt. (.)

Aber dass ich nun vor diesem Manne stand, vor einem Monsieur Fabre, dem Sohne - (.) es kam mir vor, als wäre ich auf einmal wie durch ein Kettenglied mit dem Grossen persönlich verbunden, und auf eine andere Weise als über den Geist."

Guggenheim selbst fand durch die Lektüre der "Souvenirs" nicht nur aus einer tiefen Schaffenskrise heraus, sondern sie beeinflusste sein ganzes Werk und vor allem sein Leben. "Sandkorn für Sandkorn" verwebt die eigene Biografie mit der Fabres auf unnachahmliche Weise, ist aber nicht durchwegs in dem ehrfurchtsvollen Ton des oben Zitierten gehalten, sondern auch voll feiner Selbstironie.

Auch der 1951 geborene Autor Martin Auer, Verfasser einer Fabre-Biografie, ist voller Bewunderung für den französischen Wissenschaftler. Er unterstreicht die Modernität des Pädagogen, der vor über hundert Jahren Schulbücher verfasst hatte, wie wir sie selber noch vor wenigen Jahrzehnten vermissten. Er zeigt Fabre als Vordenker der Ökologie und als Wegbereiter einer Verhaltensforschung, wie sie erst viel später von Lorenz und Tinbergen weitergeführt wurde. Auer macht aber auch deutlich, dass dieser Jean-Henri Fabre nicht der kauzige Eremit war, als den man ihn gerne sah, sondern dass da eine ganze Familie und ein paar Angestellte rund um die Uhr eingespannt waren, damit das Unternehmen Fabre reibungslos funktionieren konnte. Da waren die Kinder, die eigenen und die aus der Nachbarschaft, die Insekten sammelten, Terrarien beaufsichtigten und allerlei Handlangerdienste ausführten, und die auf Zehenspitzen gehen mussten, wenn der Alte am Schreiben war. Da waren die beiden Ehefrauen, die nirgends erwähnt wurden, aber gewiss ihren Teil beitrugen.

Man tut dem Menschen Fabre bestimmt nicht unrecht, wenn man ihn als Patriarchen bezeichnet, dessen Wünschen sich alle zu unterordnen hatten. Wenn seine Töchter Heiratsabsichten äusserten, legte er sich erst einmal quer. Dem Sohn Paul verbot er Tanzabende und das Radfahren.

"Ein wenig mehr, und die Geigen wären zu spät gekommen"

Fabres Lebensabend war alles andere als sorglos. 1912 starb seine zweite, viel jüngere Frau Marie-Joséphine. Seine Schulbücher waren nicht mehr gefragt, die Einkünfte versiegten. Er sah sich gezwungen, seine Pilzbilder zu verkaufen. Von jeher hatten ihm die Formen und Farben der Pilze gefallen und er hatte angefangen, sie zu malen. Nun besass er einige hundert Aquarelle, die er selber zwar als Werke eines Sonntagsmalers bezeichnete, was sie aber keineswegs sind. Als Käufer meldete sich der gefeierte Dichter der Provence, Frédéric Mistral. Er lebte nur wenige Kilometer von Fabre entfernt, war fast gleich alt und wollte den Forscher noch zu seinen Lebzeiten kennen lernen. Der Handel kam nicht zustande, aber Mistral setzte sich beim Präfekten dafür ein, dass dem bedürftigen Fabre eine jährliche Rente gezahlt wurde. Auch G.V. Legros, sein Freund und erster Biograph, wollte ihm helfen, wollte dass der grosse Mann endlich gebührend gefeiert wurde und warb überall im Land um Unterstützung. Sie kam weniger von den Wissenschaftlern als von den Dichtern, vor allem von Romain Rolland, Edmond Rostand und Maurice Maeterlinck. Am 3. April 1910 ging in Sérignan zu Ehren von Fabre ein grosses Fest über die Bühne mit viel Prominenz, mit Bankett, Reden und Orden, darunter die Linné-Medaille der königlichen Akademie Stockholm. Auch die Schweiz war vertreten und verlieh Fabre die Ehrenmitgliedschaft der Universität Genf. Er wurde vom Ritter zum Offizier der Ehrenlegion befördert und 1912 sowie 1914 für den Nobelpreis vorgeschlagen, nicht etwa für Naturwissenschaft, sondern für Literatur. Der Rummel um seine Person war auf einmal gross, sogar der Präsident der Republik, Raimond Poincaré stattete ihm einen Besuch ab.

Jean-Henri Fabre starb am 11. Oktober 1915. Sein Arbeitszimmer im ersten Stock des Harmas sieht noch genauso aus, wie er es verlassen hat. Der schwarze Filzhut, den er ständig trug und der ihn vor der sengenden provenzalischen Sonne schützte, wenn er stundenlang auf der Erde lag, um eine Wespe zu beobachten, ist ebenso zu sehen wie das Tischchen. "Gross wie ein Taschentuch, auf der rechten Seite das Tintenfläschchen, linker Hand das offene Heft, bot mein Tischchen gerade so viel Platz, dass man auf ihm schreiben konnte. Wie liebe ich das kleine Möbelstück, eine der ersten Erwerbungen meines jungen Haushaltes. Kleine armselige Tischplatte, mehr als ein halbes Jahrhundert bin ich dir treu geblieben. Tintenbekleckst und vom Messer gekerbt, dienst du heute noch meiner Prosa als Unterlage, wie meinen Mathematikaufgaben vor fünzig Jahren. Von Zeit zu Zeit höre ich den Hobelschlag des Holzwurms, des Ausbeuters alter Möbel. Von Jahr zu Jahr bohrt er neue Gänge und nimmt dir etwas von deiner Festigkeit; die alten münden mit kleinen runden Löchlein ins Freie. Ein Fremdling, ein anderes Insekt, bemächtigt sich ihrer, ausgezeichnete Wohnstätten, die sie sind, und ohne eigene Mühe errichtet. Ganze Völkerstämme beuten dich aus, lieber alter Tisch, ich schreibe auf einem Gewimmel von Getier. Keine Unterlage passt besser, um darauf die Erinnerungen eines Insektenforschers niederzuschreiben." Eine japanische Firma soll das kleine Tischchen des Gelehrten nachgebaut und auf Anhieb 10'000 Stück davon abgesetzt haben. Ebenfalls in Japan sollen 2 Millionen Exemplare der "Souvenirs" verkauft worden und eine CD mit Fabres Liedern erschienen sein.

Viele von Fabres wissenschaftlichen Erkenntnissen wurden später von der Forschung bestätigt. Aber das ist nicht der Grund, warum er heute noch gelesen wird. "Es gibt in dem gewaltigen Werk schlechthin keinen Satz", schreibt Kurt Guggenheim, "den nicht ein fünfzehnjähriger Schüler verstehen konnte; dabei bestand dieses Werk vor den Koryphäen der Wissenschaft. Im Grunde genommen wollte er die Natur nicht erklären, sondern bewundern.“

Quellen:
Die „Erinnerungen eines Insektenforschers“, Band I – X wurden bei Matthes & Seitz, Berlin, neu aufgelegt.
Martin Auer: "Ich aber erforsche das Leben", Die Lebensgeschichte des Jean-Henri Fabre, Beltz & Gelberg
Kurt Guggenheim, Werke II, "Sandkorn für Sandkorn",Huber