Mai-Lektüre

10. Juni 2022

Holly im Himmel

Sie tut alles, um Mutters neuen Freund rauszuekeln und Papa zurückzuholen. Das geht nicht ohne Streit, und weil sie nicht aufpasst und ein Lieferwagen zu schnell fährt, findet sich Holly im Himmel wieder. Dort ist aber nichts mit Heiterkeit und Singsang, denn der habgierige Bortel hat die Macht an sich gerissen und ein wahres Terror-Regime installiert. Zum Glück ist da Frida, die bald ihre Freundin wird, und zum Glück sind da weitere mutige Leute. Zusammen schaffen sie es, im Himmel aufzuräumen und Hollys Familie auf der Erde wieder glücklich zu machen. Wobei dieses Glück ein wenig anders aussieht, als Holly sich das vorgestellt hat.

Micha Lewinsky erzählt diese fantastische Geschichte ganz ohne Larmoyanz, dafür mit Witz und Tempo. Als Harry Potter-Fan hat mich der Himmel mit seinen magischen Einrichtungen und tückischen Transportmöglichkeiten immer wieder an Hogwarts erinnert. «Holly im Himmel» ist ganz einfach ein Kinderbuch für alle.

Micha Lewinsky: «Holly im Himmel», Diogenes © 2022
(erscheint am 24.8.2022)

 

Die Ufer des Tages

Es ist eine Familie in der Schwebe, die in dieser Geschichte einen Tag lang begleitet wird. Da ist die ältere Tochter, bei der sich vieles um Kleider, Aussehen und Partys dreht und die nicht weiss, warum sie eigentlich mit ihrem Freund zusammen ist. Da ist der Sohn, noch ein halbes Kind, der auf der Herbstmesse sein Sackgeld für eine Winnetou-Figur ausgibt und hofft, es reiche noch, um das Mädchen, für das er schwärmt, zu einer Fahrt auf der Himalaya-Bahn einzuladen. Die jüngste Tochter, die bei einer Nachbarin essen muss, weil Mama arbeitet, flüchtet sich am liebsten in eine Märchenwelt. Die Mutter geht an eine Einladung, obwohl sie erschöpft ist und Kopfschmerzen hat. Die Gastgeber ihrerseits wissen nicht recht, wie sie mit der alleinstehenden Frau umgehen sollen. Hauptperson ist der Abwesende, an den alle Familienmitglieder ständig denken: der Vater und Ehemann, der in einer psychiatrischen Klinik weilt, wo man ihn am Sonntag wieder besuchen wird. Die Aussicht darauf verursacht bei einigen ein Unbehagen. Zu allen Fragen und Sorgen um die Zukunft kommt das Stigma, welches ein solcher Klinikaufenthalt in den Fünfziger- und Sechzigerjahren bedeutete. Anita Siegfried spricht es nicht aus, aber es schwingt immer mit. Sie schafft es, ein Gefühl der Unsicherheit und Vorläufigkeit herzustellen, welches sich durch alle kleineren und grösseren Episoden dieses Tages zieht.

Anita Siegfried: «Die Ufer des Tages», Nagel & Kimche ©2000

 

A la recherche du temps perdu

Vor Monaten hatte ich mich entschlossen, Prousts Werk im Original zu lesen. Dieses Abenteuer kommt mir vor wie eine nächtliche Busfahrt, auf der immer mal wieder ein beleuchtetes Haus, ein helles Fenster oder der Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs aufblitzten. Mehr ist da nicht, bzw. mehr verstehe ich nicht. Die Handlung ist schnell erzählt, das Problem sind Prousts Überlegungen, denen ich wegen der unendlich langen Sätze und Windungen nur selten bis zum Ende folgen kann. Und doch freue ich mich jeden Abend darauf, wieder in diese Welt einzutauchen. Denn da ist dieser subtile Humor, sind diese Boshaftigkeiten und Fallgruben. Keiner schafft es wie Marcel Proust, Ängste, Schwächen, Begehren und Eifersucht so entwaffnend ehrlich darzustellen.

Ich bin jetzt auf Seite 698 des ersten Bandes. Ich bin also erst am Anfang. Meine «Nächte mit Marcel» werden noch ein wenig andauern.

Marcel Proust: «A la recherche du temps perdu», La Pléiade

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10. Juni 2022

Holly im Himmel

Sie tut alles, um Mutters neuen Freund rauszuekeln und Papa zurückzuholen. Das geht nicht ohne Streit, und weil sie nicht aufpasst und ein Lieferwagen zu schnell fährt, findet sich Holly im Himmel wieder. Dort ist aber nichts mit Heiterkeit und Singsang, denn der habgierige Bortel hat die Macht an sich gerissen und ein wahres Terror-Regime installiert. Zum Glück ist da Frida, die bald ihre Freundin wird, und zum Glück sind da weitere mutige Leute. Zusammen schaffen sie es, im Himmel aufzuräumen und Hollys Familie auf der Erde wieder glücklich zu machen. Wobei dieses Glück ein wenig anders aussieht, als Holly sich das vorgestellt hat.

Micha Lewinsky erzählt diese fantastische Geschichte ganz ohne Larmoyanz, dafür mit Witz und Tempo. Als Harry Potter-Fan hat mich der Himmel mit seinen magischen Einrichtungen und tückischen Transportmöglichkeiten immer wieder an Hogwarts erinnert. «Holly im Himmel» ist ganz einfach ein Kinderbuch für alle.

Micha Lewinsky: «Holly im Himmel», Diogenes © 2022
(erscheint am 24.8.2022)

 

Die Ufer des Tages

Es ist eine Familie in der Schwebe, die in dieser Geschichte einen Tag lang begleitet wird. Da ist die ältere Tochter, bei der sich vieles um Kleider, Aussehen und Partys dreht und die nicht weiss, warum sie eigentlich mit ihrem Freund zusammen ist. Da ist der Sohn, noch ein halbes Kind, der auf der Herbstmesse sein Sackgeld für eine Winnetou-Figur ausgibt und hofft, es reiche noch, um das Mädchen, für das er schwärmt, zu einer Fahrt auf der Himalaya-Bahn einzuladen. Die jüngste Tochter, die bei einer Nachbarin essen muss, weil Mama arbeitet, flüchtet sich am liebsten in eine Märchenwelt. Die Mutter geht an eine Einladung, obwohl sie erschöpft ist und Kopfschmerzen hat. Die Gastgeber ihrerseits wissen nicht recht, wie sie mit der alleinstehenden Frau umgehen sollen. Hauptperson ist der Abwesende, an den alle Familienmitglieder ständig denken: der Vater und Ehemann, der in einer psychiatrischen Klinik weilt, wo man ihn am Sonntag wieder besuchen wird. Die Aussicht darauf verursacht bei einigen ein Unbehagen. Zu allen Fragen und Sorgen um die Zukunft kommt das Stigma, welches ein solcher Klinikaufenthalt in den Fünfziger- und Sechzigerjahren bedeutete. Anita Siegfried spricht es nicht aus, aber es schwingt immer mit. Sie schafft es, ein Gefühl der Unsicherheit und Vorläufigkeit herzustellen, welches sich durch alle kleineren und grösseren Episoden dieses Tages zieht.

Anita Siegfried: «Die Ufer des Tages», Nagel & Kimche ©2000

 

A la recherche du temps perdu

Vor Monaten hatte ich mich entschlossen, Prousts Werk im Original zu lesen. Dieses Abenteuer kommt mir vor wie eine nächtliche Busfahrt, auf der immer mal wieder ein beleuchtetes Haus, ein helles Fenster oder der Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs aufblitzten. Mehr ist da nicht, bzw. mehr verstehe ich nicht. Die Handlung ist schnell erzählt, das Problem sind Prousts Überlegungen, denen ich wegen der unendlich langen Sätze und Windungen nur selten bis zum Ende folgen kann. Und doch freue ich mich jeden Abend darauf, wieder in diese Welt einzutauchen. Denn da ist dieser subtile Humor, sind diese Boshaftigkeiten und Fallgruben. Keiner schafft es wie Marcel Proust, Ängste, Schwächen, Begehren und Eifersucht so entwaffnend ehrlich darzustellen.

Ich bin jetzt auf Seite 698 des ersten Bandes. Ich bin also erst am Anfang. Meine «Nächte mit Marcel» werden noch ein wenig andauern.

Marcel Proust: «A la recherche du temps perdu», La Pléiade