Mit Suchtpotential

4. März 2024

Die Sendung heisst «Les pieds sur terre», «mit beiden Beinen im Leben». Als ich sie 2020 erstmals hörte, erzählte ein Mann mit brüchiger Stimme, er habe wegen der Corona-Massnahmen nicht von seiner Mutter Abschied nehmen können, welche im Pflegeheim verstorben war. Vielen Angehörigen war es damals ähnlich ergangen, so richtig berührt hat es mich erst, als ich diesem Mann zuhörte.

Die Befreiung

Um einen Todesfall ging es auch in der Geschichte, welche eine Frau um die Vierzig erzählte. Sie hatte ihren Mann ins Krankenhaus fahren müssen, weil er sich nicht wohl fühlte. Zwei Stunden später war er tot. Auf dem Heimweg habe sie das Auto neben der Strasse parkiert, sich übers Lenkrad geworfen und hemmungslos geschluchzt. Dann habe sie einen Schrei ausgestossen und gedacht: «Jetzt bin ich frei!»

Der siebzehn Jahre ältere Mann war krankhaft eifersüchtig gewesen. Sie hatte höchstens zum Einkaufen fahren dürfen - möglichst unattraktiv gerkleidet - um Nachschub zu holen für die abendlichen Trinkgelage, die der Gatte mit seinen Kumpels veranstaltete. Weil er sich als Polizist nicht vom Front National aufstellen lassen konnte, musste die Frau einspringen und fortan Flugblätter gegen Ausländer verteilen.

Nach seinem Tod fing sie an, die Gegend zu erkunden und entdeckte so auch die Zeltstadt, die man den «Dschungel von Calais» nannte, wo Tausende Flüchtlinge auf eine Gelegenheit warteten, nach Grossbritannien zu gelangen. Angesichts des Elends entschloss sie sich, zu helfen. Seit zwei Jahren ist sie glücklich mit einem Senegalesen verheiratet.

Drogen

Eine Studentin hatte ein WG-Zimmer übernommen und sich gewundert, warum der Wohnpartner Küche und Bad kaum benutzte und so gut wie unsichtbar war. Erst als die Polizei anrückte, bekam sie Einblick in sein Zimmer: Pizzaschachteln, Chaos und unzählige Cola-Flaschen, gefüllt mit einer gelben Flüssigkeit. Der junge Mann hatte Drogen fabriziert und regelmässig seinen Urin analysiert.

Gespenster

Ein Informatiker zog von Paris in die Provinz, fand ein schönes Haus, frisch renoviert und sagenhaft günstig. Die Vermieterin druckste herum und gestand schliesslich, dass es im Haus spuke. Das war ihm egal, er glaubte nicht an Gespenster. Auch dann nicht, als lautes Klopfen und widerwärtiges Lachen zu hören waren. Er klopfte zurück, was mit heiserem Gelächter beantwortet wurde. Hatte sich da jemand im Zwischenboden einquartiert? Die Vermieterin erklärte, es gebe tatsächlich noch einen weiteren Zugang. Gemeinsam stiegen sie hinauf und entdeckten ein Krähennest sowie viele leere Nussschalen. Die schlauen Vögel wissen, dass man Nüsse fallen lassen muss, um sie zu knacken. Und ihre Rufe klingen tatsächlich wie krächzendes Lachen.

Windeln

Als er sich auf die gut bezahlte Stelle bei einer Gräfin bewarb, war dem jungen Mann bewusst, dass es sich um etwas Besonderes handeln würde. Das Schloss war riesig und beschäftigte unzählige Hausangestellte. Besonders waren auch die Arbeitsbedingen: Die Stelle, so erklärte man ihm, habe einst ein Mädchen namens Maryse innegehabt. Seither würden alle ihre Nachfolgerinnen der Einfachheit halber Maryse gerufen. Dass er ein Mann sei, stelle kein Problem dar, vorausgesetzt, er trage Frauenkleider. Und noch etwas: Die Toiletten der Herrschaften seien für die Dienerschaft tabu, sie habe ihre eigenen WCs. Da aber das Schloss so weitläufig sei, fehle während der Arbeit die Zeit, diese aufzusuchen, weswegen alle Angestellten Windeln zu tragen hätten. Sogar die Schneiderei, welche die Uniformen für das Personal anfertigte, war über das Windelpaket informiert.

Diese Geschichte habe sich vor rund zwanzig Jahren abgespielt, und er habe sie bisher nur seiner Frau erzählt, sagte der einstige Diener. Am Anfang habe er sich vorgenommen, die Windeln zwar zu tragen, aber nicht zu benutzen. Bis er sie dann doch benetzen musste.

Flexibles Konzept

Es sind Alltagsgeschichten, überraschend, manchmal tragisch, manchmal komisch. Je nach Thema kommen zwei oder drei Personen zu Wort, manchmal eine allein. Und ab und zu werden aus akutellem Anlass historische Dokumente gesendet wie bespielsweise Statements zu Eisenbahnerstreiks von 1936 bis heute. Die Sendung ist ein guter Grund, sein Französisch aufzupolieren.

«Les Pieds sur terre», von Montag bis Freitag jeweils 13:30 auf France Culture, Dauer: 30 Minuten.

Aktuelles Mit Suchtpotential

4. März 2024

Die Sendung heisst «Les pieds sur terre», «mit beiden Beinen im Leben». Als ich sie 2020 erstmals hörte, erzählte ein Mann mit brüchiger Stimme, er habe wegen der Corona-Massnahmen nicht von seiner Mutter Abschied nehmen können, welche im Pflegeheim verstorben war. Vielen Angehörigen war es damals ähnlich ergangen, so richtig berührt hat es mich erst, als ich diesem Mann zuhörte.

Die Befreiung

Um einen Todesfall ging es auch in der Geschichte, welche eine Frau um die Vierzig erzählte. Sie hatte ihren Mann ins Krankenhaus fahren müssen, weil er sich nicht wohl fühlte. Zwei Stunden später war er tot. Auf dem Heimweg habe sie das Auto neben der Strasse parkiert, sich übers Lenkrad geworfen und hemmungslos geschluchzt. Dann habe sie einen Schrei ausgestossen und gedacht: «Jetzt bin ich frei!»

Der siebzehn Jahre ältere Mann war krankhaft eifersüchtig gewesen. Sie hatte höchstens zum Einkaufen fahren dürfen - möglichst unattraktiv gerkleidet - um Nachschub zu holen für die abendlichen Trinkgelage, die der Gatte mit seinen Kumpels veranstaltete. Weil er sich als Polizist nicht vom Front National aufstellen lassen konnte, musste die Frau einspringen und fortan Flugblätter gegen Ausländer verteilen.

Nach seinem Tod fing sie an, die Gegend zu erkunden und entdeckte so auch die Zeltstadt, die man den «Dschungel von Calais» nannte, wo Tausende Flüchtlinge auf eine Gelegenheit warteten, nach Grossbritannien zu gelangen. Angesichts des Elends entschloss sie sich, zu helfen. Seit zwei Jahren ist sie glücklich mit einem Senegalesen verheiratet.

Drogen

Eine Studentin hatte ein WG-Zimmer übernommen und sich gewundert, warum der Wohnpartner Küche und Bad kaum benutzte und so gut wie unsichtbar war. Erst als die Polizei anrückte, bekam sie Einblick in sein Zimmer: Pizzaschachteln, Chaos und unzählige Cola-Flaschen, gefüllt mit einer gelben Flüssigkeit. Der junge Mann hatte Drogen fabriziert und regelmässig seinen Urin analysiert.

Gespenster

Ein Informatiker zog von Paris in die Provinz, fand ein schönes Haus, frisch renoviert und sagenhaft günstig. Die Vermieterin druckste herum und gestand schliesslich, dass es im Haus spuke. Das war ihm egal, er glaubte nicht an Gespenster. Auch dann nicht, als lautes Klopfen und widerwärtiges Lachen zu hören waren. Er klopfte zurück, was mit heiserem Gelächter beantwortet wurde. Hatte sich da jemand im Zwischenboden einquartiert? Die Vermieterin erklärte, es gebe tatsächlich noch einen weiteren Zugang. Gemeinsam stiegen sie hinauf und entdeckten ein Krähennest sowie viele leere Nussschalen. Die schlauen Vögel wissen, dass man Nüsse fallen lassen muss, um sie zu knacken. Und ihre Rufe klingen tatsächlich wie krächzendes Lachen.

Windeln

Als er sich auf die gut bezahlte Stelle bei einer Gräfin bewarb, war dem jungen Mann bewusst, dass es sich um etwas Besonderes handeln würde. Das Schloss war riesig und beschäftigte unzählige Hausangestellte. Besonders waren auch die Arbeitsbedingen: Die Stelle, so erklärte man ihm, habe einst ein Mädchen namens Maryse innegehabt. Seither würden alle ihre Nachfolgerinnen der Einfachheit halber Maryse gerufen. Dass er ein Mann sei, stelle kein Problem dar, vorausgesetzt, er trage Frauenkleider. Und noch etwas: Die Toiletten der Herrschaften seien für die Dienerschaft tabu, sie habe ihre eigenen WCs. Da aber das Schloss so weitläufig sei, fehle während der Arbeit die Zeit, diese aufzusuchen, weswegen alle Angestellten Windeln zu tragen hätten. Sogar die Schneiderei, welche die Uniformen für das Personal anfertigte, war über das Windelpaket informiert.

Diese Geschichte habe sich vor rund zwanzig Jahren abgespielt, und er habe sie bisher nur seiner Frau erzählt, sagte der einstige Diener. Am Anfang habe er sich vorgenommen, die Windeln zwar zu tragen, aber nicht zu benutzen. Bis er sie dann doch benetzen musste.

Flexibles Konzept

Es sind Alltagsgeschichten, überraschend, manchmal tragisch, manchmal komisch. Je nach Thema kommen zwei oder drei Personen zu Wort, manchmal eine allein. Und ab und zu werden aus akutellem Anlass historische Dokumente gesendet wie bespielsweise Statements zu Eisenbahnerstreiks von 1936 bis heute. Die Sendung ist ein guter Grund, sein Französisch aufzupolieren.

«Les Pieds sur terre», von Montag bis Freitag jeweils 13:30 auf France Culture, Dauer: 30 Minuten.