Nachlese

2. April 2023

Nach meiner USA-Reise im letzten Herbst standen bei mir amerikanische, insbesondere kalifornische, Autorinnen und Autoren auf dem Programm:

 

Londons London

Ab 1905 hatte der Schriftsteller Jack London (1876 – 1916) im kalifornischen Glen Ellen sehr viel Land gekauft und versuchte sich als Farmer. Er schrieb nur noch, um weitere Grundstücke kaufen zu können. Heute ist der fast 567 Hektaren grosse «Jack London State Historic Park» eine Art Freilichtmuseum. Im Museums-Shop, wo Reprints seiner rund fünfzig Bücher angeboten werden, erstand ich die Sozialreportage «The People of the Abyss». 1902 war der Autor nach England gereist, dem Land seiner Vorfahren, und lebte, verkleidet und unter anderem Namen, in den Elendsvierteln des Londoner Eastends. Jack London war an ein hartes Leben gewöhnt. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen und hatte jahrelang in Fabriken geschuftet. Im Eastend jedoch glaubte er sich in der Hölle. Er berichtet von Familien, die zu zwölft in einem einzigen Zimmer hausten, in welchem geschlafen, gekocht und gewaschen wurde und von dem, aus Geldnot, eine Ecke als Schlafplatz vermietet wurde. Eine Familie lebte drei Wochen mit ihrem toten Kind zusammen, weil das Geld fürs Begräbnis fehlte. Einmal war London mit zwei Männern unterwegs auf der Suche nach Arbeit, einer Unterkunft oder wenigstens einer Mahlzeit. Er schildert, wie sich die Beiden dauernd bückten, um graue zertretene Essensreste vom Pflaster zu kratzen und zu verspeisen. Zu den ungesunden Wohnverhältnissen kamen die Gefahren, die an den Arbeitsplätzen drohten. London erzählt die Geschichte einer jungen gesunden Frau, die nach wenigen Monaten als Arbeiterin in einer Bleiweissfabrik an den giftigen Dämpfen starb. Im krassen Gegensatz zum Elend steht der Pomp der Krönungsfeierlichkeiten für König Edward VII, die er als Zuschauer miterlebte.

Bisher war für mich das 1933 erschienene Buch von George Orwell, «Down and out in Paris and London», das Eindrücklichste, was ich zum Thema Überleben in der Grossstadt gelesen hatte. Tatsächlich hatte sich Orwell von «The People oft he Abyss» anregen lassen. London geht noch näher ran und schildert mit mehr Neugierde und Empathie, was er sah. Dazu liefert er Informationen über Löhne, Lebensmittelpreise oder Sterbestatistiken.

 

Londons Frauen

Unter den vielen Büchern über Jack Londons Leben und Werk hebt sich «Jack London’s Women» von Clarice Stasz eindeutig ab. Auch sie bewundert die Hartnäckigkeit, mit der er seine Schulbildung nachholte, Schriftsteller wurde und täglich eintausend Wörter schrieb. Auch sie erzählt von den harten Zeiten als Fabrikarbeiter, Matrose oder Goldsucher am Klondike River. Was andere Biografien jedoch verschweigen oder gar verdrehen, ist die Rolle der zahlreichen Frauen, die ihm dabei geholfen haben. Die Mutter Flora unterstützte den Sohn in seinem Wunsch, zu schreiben und drängte ihn, an einem Geschichtenwettbewerb teilzunehmen, den er prompt gewann. Seine beiden Ehefrauen und seine Freundinnen tippten die Manuskripte ab und halfen ihm, wo sie konnten. Jack London war ein Patriarch, von dessen Einkünften mehrere Personen abhingen, die er jedoch sehr ungleich behandelte. Den schlechtesten Part hatte seine erste Frau Beth, die Mutter seiner Töchter Joan und Becky. Sie wurde hintergangen und finanziell kurz gehalten. Charmian Kittredge London war ein anderes Kaliber, unabhängig, mutig und ihrem Mann in jeder Hinsicht gewachsen. Aber alle diese Frauen blieben in gewisser Weise auch nach Jack Londons frühem Tod in seinem Netz gefangen und sind mitverantwortlich dafür, dass der Autor des «Seewolfs» oder des «Rufs der Wildnis» bis heute nicht vergessen ist. Charmian schrieb eine zweibändige Biografie und führte mit Jacks Stiefschwester Eliza Shepard die Farm weiter. Sie baute das Haus, das heute als Museum dient. Die Töchter Joan und Becky hielten Vorträge über ihren Vater oder standen bei Verfilmungen beratend zur Seite. Die Autorin verschweigt auch nicht Londons jahrzehntelange Alkohol-Abhängigkeit und seine Depressionen - Erfahrungen, die unter anderem in die Werke «Martin Eden» oder «John Barleycorn» eingeflossen sind. Sie erwähnt seine Anwandlungen von Rassismus und seine Begeisterung für die Eugenik. Jack London hatte sich innert kurzer Zeit ein grosses Vermögen erschrieben und war vom schmuddeligen Jungen mit ausgeschlagenen Zähnen zum Snob geworden, der sich einen asiatischen Diener hielt. Dennoch blieb er fast bis ans Lebensende Mitglied der Sozialistischen Partei und trat an Kundgebungen auf. Clarice Stasz zeichnet das Bild einer widersprüchlichen, faszinierenden Persönlichkeit, eines Mannes – das belegen die zahlreichen Fotos – von umwerfendem Charme.

Wolf House
Wolf House – Die Villa von Jack und Charmian London, die noch vor der Fertigstellung abgebrannt war.

Didions Amerika

Bei Joan Didion (1934 – 2021) werden einem bisweilen lange Aufzählungen und akribische Detailschilderungen zugemutet, für die man erst im Nachhinein dankbar ist. Nur so begreift man das Ausmass, den wahren Kern einer Sache. Ein bisschen wie bei Emile Zola, der so lange und eindrücklich das Angebot und das Gewimmel in den Pariser Markthallen schildert, dass man fortan auf jedem exotischen Markt sofort an den «Bauch von Paris» denkt.

In ihrem autobiografischen Buch «Woher ich kam» erzählt Didion, wie ihre Vorfahren einst über den Donnerpass nach Kalifornien gelangten. Aus dieser Pioniermentalität entwickelten sie ein Gefühl der Überlegenheit, welches Didion als junger Mensch übernahm, ohne es zu hinterfragen. Allmählich zerbröselt die Legende von den Glückssuchern, die Kalifornien aus eigener Kraft erfolgreich gemacht haben wollen, und es wird klar, dass die gigantischen Agrar-, Waffen oder IT-Industrien nur mit Hilfe der Regierung entstehen konnten. Daneben zeigt sich, dass der Stolz der Familie, der sich an vererbten Alltagsdingen festmacht, nichts anderes als ein skurriler Dünkel ist.

Einmal besuchen die Autorin und ihre kleine Tochter Quintana Roo die Grossmutter in Sacramento, wo Didion aufgewachsen ist. Sie spazieren durch die Arkaden der Altstadt und Didion denkt, dass ihre Tochter sich jetzt dort bewegt, wo schon ihre Urgrosseltern gegangen sind. Doch da fällt ihr ein, dass dies nicht stimmt, weil Quintana ja adoptiert ist. Dieser Schlenker weckte mein Interesse für ein anderes Werk, denn ich befasse mich nicht erst seit meinem biografischen Roman «Nicht richtig» mit Adoption. Also besorgte ich mir das Buch «Blaue Stunden».

 

Didions Mutterrolle

Quintana Roo, die Adoptivtochter von Joan Didion und John Gregory Dunne, ist mit neununddreissig Jahren gestorben. In «Blaue Stunden» erinnert sich die Autorin an die gemeinsamen Jahre und wird sich klar darüber, was sie alles nicht gesehen und nicht bemerkt hat. Wie die meisten Adoptiveltern konnte sie nicht verstehen, wieso das Kind eine derartige Angst davor hatte, verlassen zu werden. Stattdessen betont sie, wie sehr sie und ihr Mann die Tochter brauchten.

Ich empörte mich darüber, wie einfach und geradezu fahrlässig das Paar zu einem Kind gekommen war. Ich empörte mich darüber, dass das Mädchen nach einem mexikanischen Bundesstaat getauft wurde und überlegte, wie es wäre, Schaffhausen oder Nidwalden zu heissen. Weiter empörte ich mich über die Aufzählungen von Kleidchen und Stoffen, mit der die ehemalige Vogue-Journalistin Didion ihre Tochter umhüllt hatte, tatkräftig unterstützt von Freundinnen aus der Kalifornien-Schickeria. Bestürzend fand ich die Tatsache, dass sie diese Kinderkleider bis über den Tod der Tochter hinaus in einem Wandschrank aufbewahrte. Das Kind zu kleiden war wohl ihre Art, Liebe zu geben. Joan Didion beschreibt ihr Scheitern, ihre Trauer und ihre Hoffnungslosigkeit unsentimental und mit mutiger Offenheit. Das macht das Buch grossartig und unvergesslich.

 

Jack London: «The People of the Abyss »
George Orwell : « Down and Out in Paris and London»
Clarice Stasz : « Jack London’s Women »
Joan Didion : « Woher ich kam»
Joan Didion: «Blaue Stunden»

Aktuelles Nachlese

2. April 2023

Nach meiner USA-Reise im letzten Herbst standen bei mir amerikanische, insbesondere kalifornische, Autorinnen und Autoren auf dem Programm:

 

Londons London

Ab 1905 hatte der Schriftsteller Jack London (1876 – 1916) im kalifornischen Glen Ellen sehr viel Land gekauft und versuchte sich als Farmer. Er schrieb nur noch, um weitere Grundstücke kaufen zu können. Heute ist der fast 567 Hektaren grosse «Jack London State Historic Park» eine Art Freilichtmuseum. Im Museums-Shop, wo Reprints seiner rund fünfzig Bücher angeboten werden, erstand ich die Sozialreportage «The People of the Abyss». 1902 war der Autor nach England gereist, dem Land seiner Vorfahren, und lebte, verkleidet und unter anderem Namen, in den Elendsvierteln des Londoner Eastends. Jack London war an ein hartes Leben gewöhnt. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen und hatte jahrelang in Fabriken geschuftet. Im Eastend jedoch glaubte er sich in der Hölle. Er berichtet von Familien, die zu zwölft in einem einzigen Zimmer hausten, in welchem geschlafen, gekocht und gewaschen wurde und von dem, aus Geldnot, eine Ecke als Schlafplatz vermietet wurde. Eine Familie lebte drei Wochen mit ihrem toten Kind zusammen, weil das Geld fürs Begräbnis fehlte. Einmal war London mit zwei Männern unterwegs auf der Suche nach Arbeit, einer Unterkunft oder wenigstens einer Mahlzeit. Er schildert, wie sich die Beiden dauernd bückten, um graue zertretene Essensreste vom Pflaster zu kratzen und zu verspeisen. Zu den ungesunden Wohnverhältnissen kamen die Gefahren, die an den Arbeitsplätzen drohten. London erzählt die Geschichte einer jungen gesunden Frau, die nach wenigen Monaten als Arbeiterin in einer Bleiweissfabrik an den giftigen Dämpfen starb. Im krassen Gegensatz zum Elend steht der Pomp der Krönungsfeierlichkeiten für König Edward VII, die er als Zuschauer miterlebte.

Bisher war für mich das 1933 erschienene Buch von George Orwell, «Down and out in Paris and London», das Eindrücklichste, was ich zum Thema Überleben in der Grossstadt gelesen hatte. Tatsächlich hatte sich Orwell von «The People oft he Abyss» anregen lassen. London geht noch näher ran und schildert mit mehr Neugierde und Empathie, was er sah. Dazu liefert er Informationen über Löhne, Lebensmittelpreise oder Sterbestatistiken.

 

Londons Frauen

Unter den vielen Büchern über Jack Londons Leben und Werk hebt sich «Jack London’s Women» von Clarice Stasz eindeutig ab. Auch sie bewundert die Hartnäckigkeit, mit der er seine Schulbildung nachholte, Schriftsteller wurde und täglich eintausend Wörter schrieb. Auch sie erzählt von den harten Zeiten als Fabrikarbeiter, Matrose oder Goldsucher am Klondike River. Was andere Biografien jedoch verschweigen oder gar verdrehen, ist die Rolle der zahlreichen Frauen, die ihm dabei geholfen haben. Die Mutter Flora unterstützte den Sohn in seinem Wunsch, zu schreiben und drängte ihn, an einem Geschichtenwettbewerb teilzunehmen, den er prompt gewann. Seine beiden Ehefrauen und seine Freundinnen tippten die Manuskripte ab und halfen ihm, wo sie konnten. Jack London war ein Patriarch, von dessen Einkünften mehrere Personen abhingen, die er jedoch sehr ungleich behandelte. Den schlechtesten Part hatte seine erste Frau Beth, die Mutter seiner Töchter Joan und Becky. Sie wurde hintergangen und finanziell kurz gehalten. Charmian Kittredge London war ein anderes Kaliber, unabhängig, mutig und ihrem Mann in jeder Hinsicht gewachsen. Aber alle diese Frauen blieben in gewisser Weise auch nach Jack Londons frühem Tod in seinem Netz gefangen und sind mitverantwortlich dafür, dass der Autor des «Seewolfs» oder des «Rufs der Wildnis» bis heute nicht vergessen ist. Charmian schrieb eine zweibändige Biografie und führte mit Jacks Stiefschwester Eliza Shepard die Farm weiter. Sie baute das Haus, das heute als Museum dient. Die Töchter Joan und Becky hielten Vorträge über ihren Vater oder standen bei Verfilmungen beratend zur Seite. Die Autorin verschweigt auch nicht Londons jahrzehntelange Alkohol-Abhängigkeit und seine Depressionen - Erfahrungen, die unter anderem in die Werke «Martin Eden» oder «John Barleycorn» eingeflossen sind. Sie erwähnt seine Anwandlungen von Rassismus und seine Begeisterung für die Eugenik. Jack London hatte sich innert kurzer Zeit ein grosses Vermögen erschrieben und war vom schmuddeligen Jungen mit ausgeschlagenen Zähnen zum Snob geworden, der sich einen asiatischen Diener hielt. Dennoch blieb er fast bis ans Lebensende Mitglied der Sozialistischen Partei und trat an Kundgebungen auf. Clarice Stasz zeichnet das Bild einer widersprüchlichen, faszinierenden Persönlichkeit, eines Mannes – das belegen die zahlreichen Fotos – von umwerfendem Charme.

Wolf House
Wolf House – Die Villa von Jack und Charmian London, die noch vor der Fertigstellung abgebrannt war.

Didions Amerika

Bei Joan Didion (1934 – 2021) werden einem bisweilen lange Aufzählungen und akribische Detailschilderungen zugemutet, für die man erst im Nachhinein dankbar ist. Nur so begreift man das Ausmass, den wahren Kern einer Sache. Ein bisschen wie bei Emile Zola, der so lange und eindrücklich das Angebot und das Gewimmel in den Pariser Markthallen schildert, dass man fortan auf jedem exotischen Markt sofort an den «Bauch von Paris» denkt.

In ihrem autobiografischen Buch «Woher ich kam» erzählt Didion, wie ihre Vorfahren einst über den Donnerpass nach Kalifornien gelangten. Aus dieser Pioniermentalität entwickelten sie ein Gefühl der Überlegenheit, welches Didion als junger Mensch übernahm, ohne es zu hinterfragen. Allmählich zerbröselt die Legende von den Glückssuchern, die Kalifornien aus eigener Kraft erfolgreich gemacht haben wollen, und es wird klar, dass die gigantischen Agrar-, Waffen oder IT-Industrien nur mit Hilfe der Regierung entstehen konnten. Daneben zeigt sich, dass der Stolz der Familie, der sich an vererbten Alltagsdingen festmacht, nichts anderes als ein skurriler Dünkel ist.

Einmal besuchen die Autorin und ihre kleine Tochter Quintana Roo die Grossmutter in Sacramento, wo Didion aufgewachsen ist. Sie spazieren durch die Arkaden der Altstadt und Didion denkt, dass ihre Tochter sich jetzt dort bewegt, wo schon ihre Urgrosseltern gegangen sind. Doch da fällt ihr ein, dass dies nicht stimmt, weil Quintana ja adoptiert ist. Dieser Schlenker weckte mein Interesse für ein anderes Werk, denn ich befasse mich nicht erst seit meinem biografischen Roman «Nicht richtig» mit Adoption. Also besorgte ich mir das Buch «Blaue Stunden».

 

Didions Mutterrolle

Quintana Roo, die Adoptivtochter von Joan Didion und John Gregory Dunne, ist mit neununddreissig Jahren gestorben. In «Blaue Stunden» erinnert sich die Autorin an die gemeinsamen Jahre und wird sich klar darüber, was sie alles nicht gesehen und nicht bemerkt hat. Wie die meisten Adoptiveltern konnte sie nicht verstehen, wieso das Kind eine derartige Angst davor hatte, verlassen zu werden. Stattdessen betont sie, wie sehr sie und ihr Mann die Tochter brauchten.

Ich empörte mich darüber, wie einfach und geradezu fahrlässig das Paar zu einem Kind gekommen war. Ich empörte mich darüber, dass das Mädchen nach einem mexikanischen Bundesstaat getauft wurde und überlegte, wie es wäre, Schaffhausen oder Nidwalden zu heissen. Weiter empörte ich mich über die Aufzählungen von Kleidchen und Stoffen, mit der die ehemalige Vogue-Journalistin Didion ihre Tochter umhüllt hatte, tatkräftig unterstützt von Freundinnen aus der Kalifornien-Schickeria. Bestürzend fand ich die Tatsache, dass sie diese Kinderkleider bis über den Tod der Tochter hinaus in einem Wandschrank aufbewahrte. Das Kind zu kleiden war wohl ihre Art, Liebe zu geben. Joan Didion beschreibt ihr Scheitern, ihre Trauer und ihre Hoffnungslosigkeit unsentimental und mit mutiger Offenheit. Das macht das Buch grossartig und unvergesslich.

 

Jack London: «The People of the Abyss »
George Orwell : « Down and Out in Paris and London»
Clarice Stasz : « Jack London’s Women »
Joan Didion : « Woher ich kam»
Joan Didion: «Blaue Stunden»