Reisen Paris souterrain
Unter dem Asphalt existiert ein zweites Paris, dunkler und stiller, aber ebenso spektakulär. Ohne diese Unterwelt wäre die Stadt nicht gebaut worden und würde sie heute nicht funktionieren.
„Paris est un Gruyère“, sagt der Angestellte des „Musée du vin“ lachend, angesprochen auf die besondere Lokalität des Museums. Mit Gruyère bezeichnen die Franzosen fälschlicherweise den Emmentaler, und das kommt der Sache wesentlich näher. Der Untergrund von Paris und Umgebung ist nämlich derart durchlöchert, dass man sich wundert, wie darüber eine 12-Millionen-Stadt überhaupt Bestand haben kann. Das grösste Problem sind die Steinbrüche. Davon sind zwar nur noch rund 300 km übrig, aber im Gegensatz zu den Metrotunnels und den Wasserkanälen haben die Stollen zum Teil gigantische Ausmasse mit Höhen bis zu 18 Metern. Besichtigen kann man diese faszinierende Welt nur an wenigen Stellen, aber das macht das Ganze umso aufregender.
Von Kloster bis ‚Moulin Rouge’
Eine erste Ahnung vom Untergrund bekommt man beim Besuch des „Musée du vin“. Es wurde in Passy im 16. Arrondissement in einem stillgelegten Kalksteinbruch eingerichtet. Seit dem 13. Jahrhundert hatte man dort Steine gewonnen, um die Stadt zu bauen. Später lagerten die Mönche der Abtei von Passy darin ihren Wein. Ein Stück der Kordel, die die Kutte des Ordensgründers Saint François de Paule zusammengehalten hatte, wird sorgfältig aufbewahrt. Die übrigen Exponate sind alle dem Gott Bacchus gewidmet.
Eine weitere Zufallsbegegnung mit den Steinbrüchen macht, wer im Park der „Butte Chaumont“ im Nordosten der Stadt spazieren geht. Die Grotte auf der Insel mitten im künstlichen See ist ein ehemaliger Stollen. Und der berühmte Montmartre, Grossvaters Künstler- und Sündenviertel, ist nichts anderes als ein ehemaliges Gipsabbaugebiet, auf dem einstmals zahlreiche Mühlen Gipsstein zu Pulver mahlten. Da macht auch der Name ‚Moulin Rouge’ plötzlich Sinn.
Ein ‚Mille-feuille’, 250 Millionen Jahre alt
Das Pariser Becken ist eine 400 Meter dicke Cremeschnitte aus unterschiedlichsten Meeresablagerungen. Jede Schicht gab einmal etwas Brauchbares her: Aus der Kreide wurde Kalk und Zement, aus dem Lehm wurden Töpferwaren und Backsteine („Tuileries“ heisst Ziegeleien). Der Gips ist wahrscheinlich längst zerbröckelt, aber die wertvollste Schicht, der harte Kalkstein ist noch heute in Form von Kathedralen und Palästen zu bewundern. Der Chronist Louis Sébastien Mercier brachte es schon im 18. Jahrhundert auf den Punkt: « On a vidé le bas pour encombrer le haut. »’
Schon die Römer hatten im damaligen Lutetia fernab der Siedlung mit dem Abbau begonnen. Vom 12. Jahrhundert an grub man im Untertagebau, und weil sich die Stadt rapide ausdehnte, schwebten bereits im 17. Jahrhundert manche Stadtteile praktisch über dem Nichts. Einstürze häuften sich. Das letzte grosse Unglück ereignete sich 1961 im Vorort Clamart, als sechs Strassen und ein Stadion versanken. Dabei wurden 23 Häuser zerstört, es gab 21 Tote und 45 Verletzte. Die Stadt ist seit über 200 Jahren bemüht, ihren Untergrund zu kontrollieren und zu konsolidieren.
Trinken, essen, telefonieren
Seit der Stilllegung wurden und werden die Carrières, wie die Steinbrüche auf Französisch heissen, für die unterschiedlichsten Zwecke gebraucht. Die Bierbrauer zum Beispiel fanden in den Stollen ideale Bedingungen, und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde unter Paris Bier gebraut. Eine der Brasserien befand sich unterhalb der bekannten Marktstrasse Rue Mouffetard. 1814 untersuchte ein Gemüsegärtner die Steinbrüche in der Nähe seines Gartens und stiess auf prachtvolle Champignons. Das war die Geburtsstunde der berühmten „Champignons de Paris“. Sie werden zum Teil heute noch in den Steinbrüchen kultiviert, neben anderen Pilzsorten und weissem Chicorée.
Später begann die französische Telefongesellschaft, in den leeren Stollen ihre Kabel zu verlegen. Die Arbeiter schätzten den totenstillen, unheimlichen Arbeitsort nicht, manche wurden von Panikattacken heimgesucht.
Die Unterwelt in der Unterwelt
Mit dem unterirdischen Labyrinth wusste auch das so genannt lichtscheue Gesindel etwas anzufangen. So hat der Bandit Cartouche in den Steinbrüchen sein Räuberquartier gehabt, und auch der Teufel persönlich soll immer mal wieder dort unten gehaust haben. Jedenfalls hielten selbsternannte Hexenmeister Teufelskulte ab, was die klerikale Gegenseite zu allerlei Teufelsaustreibungen zwang. Das „Böse“ und das „Gute“ wohnen bekanntlich oft Tür an Tür. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen einen Teil der Steinbrüche mit grossem Aufwand zu einem Bunker umgebaut. Die Telefonkabel und deutschsprachigen Beschriftungen existieren heute noch. Hier suchten die Belagerer Schutz bei Fliegeralarm, Wand an Wand mit der Résistance. Denn selbstverständlich wurde auch die Befreiung von Paris im Untergrund vorbereitet.
Katakomben, die gar keine sind
In der französischen Umgangssprache werden die Steinbrüche oft Catacombes genannt. Diese Bezeichnung ist aber dem grossen unterirdischen Friedhof im Süden der Stadt vorbehalten und ist ebenfalls nicht korrekt. Denn mit Katakomben im römischen Sinne haben sie nichts zu tun.
Seit dem Mittelalter hatten Pestepidemien immer wieder Tausende von Menschen innert weniger Wochen dahingerafft. Da die katholische Kirche die Leichenverbrennung verbot, quollen die Friedhöfe buchstäblich über und verpesteten die Brunnen, aus denen die Bewohner ihr Trinkwasser schöpften. Mercier beschrieb in seinem „Tableau de Paris“, dass das Brot bei manchen Bäckern merkwürdig nach Verwesung roch. Diese unhaltbaren Zustände brachten um 1780 einen Polizeileutnant auf die Idee, mehrere Friedhöfe stillzulegen und die Toten in die Steinbrüche unterhalb der Place Denfert-Rocherau zu bringen.
Da ruhen sie noch heute. Sieben Millionen Skelette, fein säuberlich geordnet und zu Ornamenten drapiert. Es ist nicht nur der allgegenwärtige Tod oder der Penicillium-Pilz, der die Schädel grünlich schimmern lässt, es sind vor allem diese Muster, die dem Ort etwas Makabres geben. Nach einer halben Stunde ist man froh, wenn man sich wieder die 20 Meter hinauf ans Tageslicht schrauben darf.
Einige unterirdische Sehenswürdigkeiten sind nur einmal im Jahr, während der „Journées du patrimoine“ am dritten Wochenende im September für das Publikum zugänglich. Dann öffnet das Steinbruchmuseum seine Tore, können unterirdische Aquädukte besucht werden und im Vorort Châtillon-sous-Bagneux ist die letzte pferdebetriebene Winde in Betrieb. Damit wurden früher die tonnenschweren Kalksteine aus den Stollen gehievt.
Les Cataphiles
Es ist strengstens verboten, den Untergrund auf eigene Faust zu erkunden. Das hält aber die Kataphilen nicht davon ab, immer wieder hinabzusteigen. Es sind nicht nur Jugendliche, die dort unten auf Entdeckungsreise gehen, Musik machen, Feste feiern oder einfach ihre Ruhe haben wollen. Fern vom hektischen Stadtleben kann man wunderbar wegtauchen. Manche verirren sich, und müssen gesucht werden. Es soll auch schon zu Raubüberfällen in der Unterwelt gekommen sein. Die Behörden haben bereits den grössten Teil der Zugänge dicht gemacht. Aber die Kataphilen finden immer wieder einen Weg. Am einfachsten geht es über das weitverzweigte Kanalisationssystem. Man hebt den richtigen Dolendeckel und verschwindet.
Weniger Risikofreudige besuchen die unterirdische Abwasserstadt auf offiziellem Wege. Sie gilt seit Jahrzehnten als Touristen-Attraktion. Früher liess man sich in Bötchen durch die Kanäle ziehen und staunte unter anderem darüber, dass jede Strasse und jede Hausnummer genau wie oben angeschrieben sind. Heute spaziert man auf Gitterrosten über den Abwässern und wundert sich, dass es höchstens nach Waschmitteln stinkt. Das war nicht immer so. Vor der Inbetriebnahme dieses einzigartigen Abwassersystems sollen in Paris umwerfende odeurs in der Luft gelegen haben. Die Beseitigung dieses Missstandes ist als ‚Histoire des Egouts de Paris’ auf Bild- und Schrifttafeln erzählt. Sie hängen an Drahtseilen, damit sie bei Hochwasser schnell aus der Gefahrenzone gezogen werden können. Insgesamt winden sich 2300 km Abwasserkanäle und 2000 km Frischwasserleitungen unter der Stadt hindurch und tragen, neben der Metro, und den Schnellbahnen RER und Eole, ebenfalls zum Bild des Emmentalers bei.
Eine Nacht in der Metro
Die Pariser Untergrundbahn wurde im Jahre 1900 pünktlich zur Weltausstellung eröffnet, ihr Schienennetz ist heute 211 km lang. Damit steht sie sowohl vom Alter als auch von der Länge her weltweit auf Platz 5. Die älteste und längste fährt durch London, mit 450 Schienenkilometern, eröffnet 1863. Da hatte in Paris das jahrzehntelange Gerangel um Finanzierung und Streckenführung erst begonnen. Im Gegensatz zu vielen andern Städten mussten hier auch noch unzählige Kilometer Steinbrüche aufgefüllt oder befestigt werden, damit die neue Bahn darüber donnern konnte. Die Geschichte der Metro füllt Bände. Und so wie Eisenbahnfans ihre Vereinigungen und Publikationen haben, so gibt es in Paris die Aficionados der Metro. Eine der Organisationen, die ADEMAS, führt monatlich Nachtfahrten für rund 250 Personen durch. Eine ziemlich strapaziöse etwa 6-stündige Reise samt Champagner und Frühstück im Depot, mit Halt an ganz speziellen Stationen. Zum Beispiel an der Haltestelle St. Martin, die seit 1939 geschlossen ist. Dafür diente sie als Drehort für Filme wie „Le dernier metro“, und eine Zeitlang auch als Obdachlosenunterkunft. Die Reisebegleiter werden nicht müde, unterwegs auf alle Besonderheiten und Unterschiede der Konstruktion, der Linien und des Rollmaterials hinzuweisen und Anekdoten zu erzählen. Man bekommt eine Ahnung davon, was alles funktionieren muss, um jährlich über eine Milliarde Fahrgäste zu transportieren. Und spätestens beim nächsten Streik wird einem die Bedeutung der Metro für die Stadt wieder voll bewusst.
Musée du Vin, Rue des Eaux / 5, Square Charles Dickens, 75016 Paris, 01 45 25 63 26, Metro Passy
Parc des Buttes-Chaumont, 75019 Paris, Metro Buttes-Chaumont
Les Catacombes, 1, Place Denfert-Rochereau, 75014 Paris, 01 43 22 47 63, Metro Denfert-Rochereau
Musée des Carrières, 27, rue du Faubourg-Saint-Jacques, 75014 Paris, 01 46 33 16 35, Metro Saint-Jacques
Association sources du Nord, 63 rue de Ménilmontant, 75020 Paris, 01 43 49 36 91, Metro Ménilmontant
Institut de sauvegarde et de réhabilitation du patrimoine industriel des carrières, 19, rue Ampère, 92330 Châtillon-sous-Bagneux, 01 46 23 89 63
ADEMAS, 17, rue des Abondances, 92100 Boulogne-Billancourt, 01 48 25 13 32
Reisen Paris souterrain


Unter dem Asphalt existiert ein zweites Paris, dunkler und stiller, aber ebenso spektakulär. Ohne diese Unterwelt wäre die Stadt nicht gebaut worden und würde sie heute nicht funktionieren.
„Paris est un Gruyère“, sagt der Angestellte des „Musée du vin“ lachend, angesprochen auf die besondere Lokalität des Museums. Mit Gruyère bezeichnen die Franzosen fälschlicherweise den Emmentaler, und das kommt der Sache wesentlich näher. Der Untergrund von Paris und Umgebung ist nämlich derart durchlöchert, dass man sich wundert, wie darüber eine 12-Millionen-Stadt überhaupt Bestand haben kann. Das grösste Problem sind die Steinbrüche. Davon sind zwar nur noch rund 300 km übrig, aber im Gegensatz zu den Metrotunnels und den Wasserkanälen haben die Stollen zum Teil gigantische Ausmasse mit Höhen bis zu 18 Metern. Besichtigen kann man diese faszinierende Welt nur an wenigen Stellen, aber das macht das Ganze umso aufregender.
Von Kloster bis ‚Moulin Rouge’
Eine erste Ahnung vom Untergrund bekommt man beim Besuch des „Musée du vin“. Es wurde in Passy im 16. Arrondissement in einem stillgelegten Kalksteinbruch eingerichtet. Seit dem 13. Jahrhundert hatte man dort Steine gewonnen, um die Stadt zu bauen. Später lagerten die Mönche der Abtei von Passy darin ihren Wein. Ein Stück der Kordel, die die Kutte des Ordensgründers Saint François de Paule zusammengehalten hatte, wird sorgfältig aufbewahrt. Die übrigen Exponate sind alle dem Gott Bacchus gewidmet.
Eine weitere Zufallsbegegnung mit den Steinbrüchen macht, wer im Park der „Butte Chaumont“ im Nordosten der Stadt spazieren geht. Die Grotte auf der Insel mitten im künstlichen See ist ein ehemaliger Stollen. Und der berühmte Montmartre, Grossvaters Künstler- und Sündenviertel, ist nichts anderes als ein ehemaliges Gipsabbaugebiet, auf dem einstmals zahlreiche Mühlen Gipsstein zu Pulver mahlten. Da macht auch der Name ‚Moulin Rouge’ plötzlich Sinn.
Ein ‚Mille-feuille’, 250 Millionen Jahre alt
Das Pariser Becken ist eine 400 Meter dicke Cremeschnitte aus unterschiedlichsten Meeresablagerungen. Jede Schicht gab einmal etwas Brauchbares her: Aus der Kreide wurde Kalk und Zement, aus dem Lehm wurden Töpferwaren und Backsteine („Tuileries“ heisst Ziegeleien). Der Gips ist wahrscheinlich längst zerbröckelt, aber die wertvollste Schicht, der harte Kalkstein ist noch heute in Form von Kathedralen und Palästen zu bewundern. Der Chronist Louis Sébastien Mercier brachte es schon im 18. Jahrhundert auf den Punkt: « On a vidé le bas pour encombrer le haut. »’
Schon die Römer hatten im damaligen Lutetia fernab der Siedlung mit dem Abbau begonnen. Vom 12. Jahrhundert an grub man im Untertagebau, und weil sich die Stadt rapide ausdehnte, schwebten bereits im 17. Jahrhundert manche Stadtteile praktisch über dem Nichts. Einstürze häuften sich. Das letzte grosse Unglück ereignete sich 1961 im Vorort Clamart, als sechs Strassen und ein Stadion versanken. Dabei wurden 23 Häuser zerstört, es gab 21 Tote und 45 Verletzte. Die Stadt ist seit über 200 Jahren bemüht, ihren Untergrund zu kontrollieren und zu konsolidieren.
Trinken, essen, telefonieren
Seit der Stilllegung wurden und werden die Carrières, wie die Steinbrüche auf Französisch heissen, für die unterschiedlichsten Zwecke gebraucht. Die Bierbrauer zum Beispiel fanden in den Stollen ideale Bedingungen, und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde unter Paris Bier gebraut. Eine der Brasserien befand sich unterhalb der bekannten Marktstrasse Rue Mouffetard. 1814 untersuchte ein Gemüsegärtner die Steinbrüche in der Nähe seines Gartens und stiess auf prachtvolle Champignons. Das war die Geburtsstunde der berühmten „Champignons de Paris“. Sie werden zum Teil heute noch in den Steinbrüchen kultiviert, neben anderen Pilzsorten und weissem Chicorée.
Später begann die französische Telefongesellschaft, in den leeren Stollen ihre Kabel zu verlegen. Die Arbeiter schätzten den totenstillen, unheimlichen Arbeitsort nicht, manche wurden von Panikattacken heimgesucht.
Die Unterwelt in der Unterwelt
Mit dem unterirdischen Labyrinth wusste auch das so genannt lichtscheue Gesindel etwas anzufangen. So hat der Bandit Cartouche in den Steinbrüchen sein Räuberquartier gehabt, und auch der Teufel persönlich soll immer mal wieder dort unten gehaust haben. Jedenfalls hielten selbsternannte Hexenmeister Teufelskulte ab, was die klerikale Gegenseite zu allerlei Teufelsaustreibungen zwang. Das „Böse“ und das „Gute“ wohnen bekanntlich oft Tür an Tür. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen einen Teil der Steinbrüche mit grossem Aufwand zu einem Bunker umgebaut. Die Telefonkabel und deutschsprachigen Beschriftungen existieren heute noch. Hier suchten die Belagerer Schutz bei Fliegeralarm, Wand an Wand mit der Résistance. Denn selbstverständlich wurde auch die Befreiung von Paris im Untergrund vorbereitet.
Katakomben, die gar keine sind
In der französischen Umgangssprache werden die Steinbrüche oft Catacombes genannt. Diese Bezeichnung ist aber dem grossen unterirdischen Friedhof im Süden der Stadt vorbehalten und ist ebenfalls nicht korrekt. Denn mit Katakomben im römischen Sinne haben sie nichts zu tun.
Seit dem Mittelalter hatten Pestepidemien immer wieder Tausende von Menschen innert weniger Wochen dahingerafft. Da die katholische Kirche die Leichenverbrennung verbot, quollen die Friedhöfe buchstäblich über und verpesteten die Brunnen, aus denen die Bewohner ihr Trinkwasser schöpften. Mercier beschrieb in seinem „Tableau de Paris“, dass das Brot bei manchen Bäckern merkwürdig nach Verwesung roch. Diese unhaltbaren Zustände brachten um 1780 einen Polizeileutnant auf die Idee, mehrere Friedhöfe stillzulegen und die Toten in die Steinbrüche unterhalb der Place Denfert-Rocherau zu bringen.
Da ruhen sie noch heute. Sieben Millionen Skelette, fein säuberlich geordnet und zu Ornamenten drapiert. Es ist nicht nur der allgegenwärtige Tod oder der Penicillium-Pilz, der die Schädel grünlich schimmern lässt, es sind vor allem diese Muster, die dem Ort etwas Makabres geben. Nach einer halben Stunde ist man froh, wenn man sich wieder die 20 Meter hinauf ans Tageslicht schrauben darf.
Einige unterirdische Sehenswürdigkeiten sind nur einmal im Jahr, während der „Journées du patrimoine“ am dritten Wochenende im September für das Publikum zugänglich. Dann öffnet das Steinbruchmuseum seine Tore, können unterirdische Aquädukte besucht werden und im Vorort Châtillon-sous-Bagneux ist die letzte pferdebetriebene Winde in Betrieb. Damit wurden früher die tonnenschweren Kalksteine aus den Stollen gehievt.
Les Cataphiles
Es ist strengstens verboten, den Untergrund auf eigene Faust zu erkunden. Das hält aber die Kataphilen nicht davon ab, immer wieder hinabzusteigen. Es sind nicht nur Jugendliche, die dort unten auf Entdeckungsreise gehen, Musik machen, Feste feiern oder einfach ihre Ruhe haben wollen. Fern vom hektischen Stadtleben kann man wunderbar wegtauchen. Manche verirren sich, und müssen gesucht werden. Es soll auch schon zu Raubüberfällen in der Unterwelt gekommen sein. Die Behörden haben bereits den grössten Teil der Zugänge dicht gemacht. Aber die Kataphilen finden immer wieder einen Weg. Am einfachsten geht es über das weitverzweigte Kanalisationssystem. Man hebt den richtigen Dolendeckel und verschwindet.
Weniger Risikofreudige besuchen die unterirdische Abwasserstadt auf offiziellem Wege. Sie gilt seit Jahrzehnten als Touristen-Attraktion. Früher liess man sich in Bötchen durch die Kanäle ziehen und staunte unter anderem darüber, dass jede Strasse und jede Hausnummer genau wie oben angeschrieben sind. Heute spaziert man auf Gitterrosten über den Abwässern und wundert sich, dass es höchstens nach Waschmitteln stinkt. Das war nicht immer so. Vor der Inbetriebnahme dieses einzigartigen Abwassersystems sollen in Paris umwerfende odeurs in der Luft gelegen haben. Die Beseitigung dieses Missstandes ist als ‚Histoire des Egouts de Paris’ auf Bild- und Schrifttafeln erzählt. Sie hängen an Drahtseilen, damit sie bei Hochwasser schnell aus der Gefahrenzone gezogen werden können. Insgesamt winden sich 2300 km Abwasserkanäle und 2000 km Frischwasserleitungen unter der Stadt hindurch und tragen, neben der Metro, und den Schnellbahnen RER und Eole, ebenfalls zum Bild des Emmentalers bei.
Eine Nacht in der Metro
Die Pariser Untergrundbahn wurde im Jahre 1900 pünktlich zur Weltausstellung eröffnet, ihr Schienennetz ist heute 211 km lang. Damit steht sie sowohl vom Alter als auch von der Länge her weltweit auf Platz 5. Die älteste und längste fährt durch London, mit 450 Schienenkilometern, eröffnet 1863. Da hatte in Paris das jahrzehntelange Gerangel um Finanzierung und Streckenführung erst begonnen. Im Gegensatz zu vielen andern Städten mussten hier auch noch unzählige Kilometer Steinbrüche aufgefüllt oder befestigt werden, damit die neue Bahn darüber donnern konnte. Die Geschichte der Metro füllt Bände. Und so wie Eisenbahnfans ihre Vereinigungen und Publikationen haben, so gibt es in Paris die Aficionados der Metro. Eine der Organisationen, die ADEMAS, führt monatlich Nachtfahrten für rund 250 Personen durch. Eine ziemlich strapaziöse etwa 6-stündige Reise samt Champagner und Frühstück im Depot, mit Halt an ganz speziellen Stationen. Zum Beispiel an der Haltestelle St. Martin, die seit 1939 geschlossen ist. Dafür diente sie als Drehort für Filme wie „Le dernier metro“, und eine Zeitlang auch als Obdachlosenunterkunft. Die Reisebegleiter werden nicht müde, unterwegs auf alle Besonderheiten und Unterschiede der Konstruktion, der Linien und des Rollmaterials hinzuweisen und Anekdoten zu erzählen. Man bekommt eine Ahnung davon, was alles funktionieren muss, um jährlich über eine Milliarde Fahrgäste zu transportieren. Und spätestens beim nächsten Streik wird einem die Bedeutung der Metro für die Stadt wieder voll bewusst.
Musée du Vin, Rue des Eaux / 5, Square Charles Dickens, 75016 Paris, 01 45 25 63 26, Metro Passy
Parc des Buttes-Chaumont, 75019 Paris, Metro Buttes-Chaumont
Les Catacombes, 1, Place Denfert-Rochereau, 75014 Paris, 01 43 22 47 63, Metro Denfert-Rochereau
Musée des Carrières, 27, rue du Faubourg-Saint-Jacques, 75014 Paris, 01 46 33 16 35, Metro Saint-Jacques
Association sources du Nord, 63 rue de Ménilmontant, 75020 Paris, 01 43 49 36 91, Metro Ménilmontant
Institut de sauvegarde et de réhabilitation du patrimoine industriel des carrières, 19, rue Ampère, 92330 Châtillon-sous-Bagneux, 01 46 23 89 63
ADEMAS, 17, rue des Abondances, 92100 Boulogne-Billancourt, 01 48 25 13 32