Tischtücher – ganz, gelöchert, zerschnitten

25. November 2024

«Zwischen den beiden Parteien ist das Tischtuch zerschnitten!» Dieses Bild amüsiert mich irgendwie, obwohl es dabei um Streit und Unversöhnlichkeit geht. Im Mittelalter mussten scheidungswillige Eheleute tatsächlich ein Tischtuch zerschneiden; nur so wurde die Trennung rechtskräftig, und Mann und Frau konnten ihrer Wege gehen, ausgestattet mit je einem halben Tischtuch. Vielleicht wurden ja so die Tisch-Sets erfunden. Ich jedenfalls fand Tisch-Sets lange Zeit moderner und praktischer, bin aber inzwischen zum Tischtuch zurückgekehrt. Und habe auf Reisen und daheim allerlei Merkwürdiges rund um dieses Stück Stoff erlebt.

Liz Suter - Hoffest 2009

Selbst geflachst

Meine älteste Schwester vermachte mir ein robustes Teil aus grobem Leinen und betonte, den Flachs dazu habe unser Grossvater selbst angebaut. Seit ich kürzlich das Leinenmuseum im belgischen Kortrijk besucht habe, weiss ich wie mühsam und langwierig es ist, aus diesen blaublümeligen Stängeln einen Stoff zu machen und halte das gute Stück in Ehren. Aber aufgetischt wird es nie, denn es ist bestickt. Mit dunkelbraunem Garn und mit Kreuzstich, und den kann ich überhaupt nicht ausstehen.

 

Unbestickt

Es war auf einer Reise durchs Burgund, lange vor Handy und Booking. Man war froh, wenn man eine Unterkunft und vor dem Schlafengehen noch eine Mahlzeit in der düsteren Gaststube bekam. In einer dieser Bleiben fiel mir plötzlich auf, dass die vermeintlich weissen Tischtücher gar nicht weiss, sondern merkwürdig blaugrau verziert waren. Im Gegensatz zu meinem Partner erkannte ich als Handarbeitsunterrichtsgeschädigte sofort, was wir da vor uns hatten: Stickvorlagen, die niemand hatte besticken wollen. Natürlich ging es um Kreuzstich, und ich hatte volles Verständnis für die Weigerung.

 

Einseitig gelocht

Unterwegs in der Champagne und immer noch ohne Handy, landeten wir in einer Privatunterkunft mit Gästetisch. Die Gastgeber waren reizend und hatten Phantasie, wie die Zimmereinrichtung, die Menüfolge und die Tischgespräche bewiesen. Als ein anderer Gast, eine Frau mittleren Alters, welcher vor kurzem ein Magenband eingesetzt worden war, ohnmächtig vom Stuhl glitt, war es an den starken Männern, sie vom Boden aufzulesen und aufs Sofa zu tragen. Ich hatte derweil Zeit, mir die Tischdekoration genauer anzusehen und entdeckte plötzlich im Rand des blau und braun gestreiften Tischtuchs merkwürdige harte Gegenstände, genauer: metallene Ringe. «Das ist ja ein Vorhang!», platze ich, natürlich auf Französisch, heraus. Die Gastgeberin meinte, man fände im Moment einfach keine hübschen Tischtücher und nannte das Textil fortan «nappe-rideau».

 

Zentral gelocht

Anfang der 1990er-Jahre in Chiapas, im südlichen Mexiko, waren wir zu Gast bei einer Lacandonen-Familie; einer der Söhne sollte uns anderntags durch den Urwald zu einem Tempel führen. Hier, in dieser Hütte, erwartete man kein Tischtuch. Es war ein grob gezimmerter Verschlag, bedeckt mit Palmwedeln. Fenster brauchte es keine, durch die breiten Zwischenräume drang genug Licht. Seit ich vor der Hütte ein Stück Unterkiefer gefunden hatte, machte ich mir Sorgen um die Art unserer Verpflegung, denn ein Junge hatte mir erklärt, die Knochen stammten von einem «Momo». Auf Affe hatte ich nun wirklich keinen Appetit. Da brachte eine der Frauen, kaum hatten wir uns an den rot gedeckten Tisch gesetzt, ein Glas mit goldenem Deckel. Es war das Luxuriöseste und Modernste, was sie im Dorfladen hatte auftreiben können: Nescafé! Dazu gab es unproblematische Tortillas mit Bohnen. Irgendwann fiel mir ein grosses rundes Loch im Tischtuch auf, und da wir ohne unsere Gastgeberin assen, konnte ich es in aller Ruhe untersuchen. Es entpuppte sich als Armloch; die Lacandonenfrau hatte einfach eines ihrer Kleider zweckentfremdet.

Aktuelles Tischtücher – ganz, gelöchert, zerschnitten

25. November 2024
Liz Suter - Hoffest 2009

«Zwischen den beiden Parteien ist das Tischtuch zerschnitten!» Dieses Bild amüsiert mich irgendwie, obwohl es dabei um Streit und Unversöhnlichkeit geht. Im Mittelalter mussten scheidungswillige Eheleute tatsächlich ein Tischtuch zerschneiden; nur so wurde die Trennung rechtskräftig, und Mann und Frau konnten ihrer Wege gehen, ausgestattet mit je einem halben Tischtuch. Vielleicht wurden ja so die Tisch-Sets erfunden. Ich jedenfalls fand Tisch-Sets lange Zeit moderner und praktischer, bin aber inzwischen zum Tischtuch zurückgekehrt. Und habe auf Reisen und daheim allerlei Merkwürdiges rund um dieses Stück Stoff erlebt.

 

Selbst geflachst

Meine älteste Schwester vermachte mir ein robustes Teil aus grobem Leinen und betonte, den Flachs dazu habe unser Grossvater selbst angebaut. Seit ich kürzlich das Leinenmuseum im belgischen Kortrijk besucht habe, weiss ich wie mühsam und langwierig es ist, aus diesen blaublümeligen Stängeln einen Stoff zu machen und halte das gute Stück in Ehren. Aber aufgetischt wird es nie, denn es ist bestickt. Mit dunkelbraunem Garn und mit Kreuzstich, und den kann ich überhaupt nicht ausstehen.

 

Unbestickt

Es war auf einer Reise durchs Burgund, lange vor Handy und Booking. Man war froh, wenn man eine Unterkunft und vor dem Schlafengehen noch eine Mahlzeit in der düsteren Gaststube bekam. In einer dieser Bleiben fiel mir plötzlich auf, dass die vermeintlich weissen Tischtücher gar nicht weiss, sondern merkwürdig blaugrau verziert waren. Im Gegensatz zu meinem Partner erkannte ich als Handarbeitsunterrichtsgeschädigte sofort, was wir da vor uns hatten: Stickvorlagen, die niemand hatte besticken wollen. Natürlich ging es um Kreuzstich, und ich hatte volles Verständnis für die Weigerung.

 

Einseitig gelocht

Unterwegs in der Champagne und immer noch ohne Handy, landeten wir in einer Privatunterkunft mit Gästetisch. Die Gastgeber waren reizend und hatten Phantasie, wie die Zimmereinrichtung, die Menüfolge und die Tischgespräche bewiesen. Als ein anderer Gast, eine Frau mittleren Alters, welcher vor kurzem ein Magenband eingesetzt worden war, ohnmächtig vom Stuhl glitt, war es an den starken Männern, sie vom Boden aufzulesen und aufs Sofa zu tragen. Ich hatte derweil Zeit, mir die Tischdekoration genauer anzusehen und entdeckte plötzlich im Rand des blau und braun gestreiften Tischtuchs merkwürdige harte Gegenstände, genauer: metallene Ringe. «Das ist ja ein Vorhang!», platze ich, natürlich auf Französisch, heraus. Die Gastgeberin meinte, man fände im Moment einfach keine hübschen Tischtücher und nannte das Textil fortan «nappe-rideau».

 

Zentral gelocht

Anfang der 1990er-Jahre in Chiapas, im südlichen Mexiko, waren wir zu Gast bei einer Lacandonen-Familie; einer der Söhne sollte uns anderntags durch den Urwald zu einem Tempel führen. Hier, in dieser Hütte, erwartete man kein Tischtuch. Es war ein grob gezimmerter Verschlag, bedeckt mit Palmwedeln. Fenster brauchte es keine, durch die breiten Zwischenräume drang genug Licht. Seit ich vor der Hütte ein Stück Unterkiefer gefunden hatte, machte ich mir Sorgen um die Art unserer Verpflegung, denn ein Junge hatte mir erklärt, die Knochen stammten von einem «Momo». Auf Affe hatte ich nun wirklich keinen Appetit. Da brachte eine der Frauen, kaum hatten wir uns an den rot gedeckten Tisch gesetzt, ein Glas mit goldenem Deckel. Es war das Luxuriöseste und Modernste, was sie im Dorfladen hatte auftreiben können: Nescafé! Dazu gab es unproblematische Tortillas mit Bohnen. Irgendwann fiel mir ein grosses rundes Loch im Tischtuch auf, und da wir ohne unsere Gastgeberin assen, konnte ich es in aller Ruhe untersuchen. Es entpuppte sich als Armloch; die Lacandonenfrau hatte einfach eines ihrer Kleider zweckentfremdet.