Biografien Nicht Richtig – Leseprobe
Über ein Leben ohne Anfang
Biografischer Roman
Der falsche Name
„Jetzt hörst du aber auf damit!“, mahnte Mutter Irmgard, „sonst denken die Leute noch, du bist ein Äffchen!“ Mira hatte im Zoo schon oft den Affen auf dem Felsen zugeschaut, wie sie sich gegenseitig lausten. Aber die benutzten doch gar keinen Kamm! Widerwillig händigte sie Mutter Irmgard das kleine Etui aus, das ihr eine Tante geschenkt hatte. Es war ein scheussliches Ding aus dem neuen Material Plastik, welches Hausfrauen wie Irmgard endlich eine abwaschbare Welt ermöglichte, weshalb man den Ekel erregenden Geruch gerne in Kauf nahm. Dazu war das neue Etui auch noch zweifarbig, innen vanillegelb, aussen durchfallbraun. Auf der linken Innenseite war ein Spiegelchen aufgeklebt, auf der rechten steckte in einer kleinen Tasche ein Kamm mit bösartig spitzen Zähnen. Mit diesem hatte Mira immer wieder ihre Stirnfransen gekämmt und sich dabei betrachtet, ohne an die anderen Leute in dem düsteren Zugabteil zu denken. Mutter Irmgard zerrte nun die kleine Reisetasche unter ihrem Sitz hervor, um das Etui zu versorgen. Dabei musste ihr Rock ein wenig hochgerutscht sein und den Blick auf ihr rechtes Bein frei gegeben haben. Denn in diesem Moment rief das andere Kind im Abteil aufgeregt: „Mutti! Schau! Dort, an dem Bein der Dame! Was ist das? Schau doch!!“ Das Mädchen war etwa sieben Jahre alt, kaum jünger als Mira selber. Es wurde für sein allzu neugieriges Verhalten nicht zurechtgewiesen. Mira stellte einmal mehr verwundert fest, dass andere Mütter anders reagierten. Eigentlich hätte Mutter Irmgard dem Mädchen ganz einfach erklären können, was das war an ihrem Bein. Aber das war nicht Irmgards Art. Stattdessen erstarrte sie einfach, und mit ihr hielt das ganze Zugabteil für eine Minute die Luft an. Vater Alfons hatte die Szene nicht mitbekommen. Er hasste Zugabteile, in welchen man fremden Leuten gegenüber sass, und verbrachte deshalb den grössten Teil der Reise rauchend am Fenster im Gang. Aber selbst wenn er dabei gewesen wäre, hätte er sich nicht ritterlich vor seine Frau stellen können, denn Alfons sprach kein Hochdeutsch. Mira fühlte ein wenig Mitleid mit der erstarrten Mutter, vor allem aber fühlte sie sich schuldig. Denn sie wusste, dass die Geschwulst, die wie ein halbes hartes Ei an Mutters Bein klebte, ihre Schuld war. Weil sie damals, als die Eltern sie bekommen hatten, so krank gewesen war, dass Irmgard und Alfons Tag und Nacht auf den Beinen hatten sein müssen, um zu verhindern, dass der Säugling an seinen Keuchhustenanfällen erstickte. Mira wusste auch, dass ein Kind meistens selber schuld ist, wenn es krank wird. Weil es gerannt ist und dabei geschwitzt hat. Oder weil es unbedingt schon im Vorfrühling Kniestrümpfe hatte anziehen wollen, wie die andern Kinder auch. Vor allem aber wusste Mira, dass die Eltern eines kranken Kindes viel mehr leiden als das Kind selbst. Und sie war oft krank.
Miras erste Erinnerung ans Kranksein ist vielleicht nur Einbildung: Sie wird von Vater Alfons durch eine enge Eingangspforte getragen, vorbei an einer Glasscheibe. Das ist alles. Warum hätte man ihr eine so unwichtige Begebenheit erzählen sollen? Ganz bestimmt war es Vater Alfons gewesen, der sie damals ins Kinderspital getragen hatte, als sie mit zweieinhalb Jahren erkrankt war. An Tuberkulose, wie sie erst viel später herausfinden sollte. Aber dieses Wort hatte damals niemand in den Mund genommen. Mutter Irmgard hätte es nicht aussprechen können, und den ihr geläufigeren Ausdruck „Schwindsucht“ hätten beide Eltern nicht verkraftet. Dieses Kind durfte nicht auch noch verschwinden. Eine Lungenentzündung war darum das Äusserste, was sie ertragen konnten oder was ihnen die Ärzte im Spital zugemutet hatten. Zu Hause war es Vater Alfons, der sich um die Verarztung des Kindes kümmerte. Er war der Verwalter der Pflaster, Salbentuben und Mullbinden. Wenn Mira hingefallen war, und sie fiel oft hin, dann war er es, der ihre aufgeschlagenen Knie verband, vorwurfslos. Für die Vorwürfe war Mutter Irmgard zuständig. Sie musste ja die handgestrickten Strumpfhosen waschen und flicken, obwohl sie, wie sie selber mit Bedauern einräumte, den Maschenstich gar nicht richtig beherrschte.
Das Zimmer im Kinderspital sieht Mira noch heute deutlich vor sich. Niemand hatte es ihr schildern können, denn niemand hatte sie während der vier Wochen besuchen dürfen. Sie erinnert sich an Stöpheli im Bett neben ihr, der schrie, weil er sich keine Spritze verpassen lassen wollte, an Hansli, der so gelb war im Gesicht. Und an den Teddybären, den man ihr eines Tages hingehalten hatte. Im Unterschied zu den Puppen, die sie nie gemocht hatte, liebte Mira diesen Bären weit über ihr Kindsein hinaus.
Die stärkste Erinnerung ans Spital ist die an das Angebundensein: Sie hört sich schreien und spürt, wie sich ihre Arme auf und ab bewegen, auf und ab, auf und ab. Bis sie den Kopf zur Seite dreht und ihre Hand sieht. Eine weisse Gaze ist um das Handgelenk und um einen der Gitterstäbe des Bettes geschlungen. Das Bild fror in dem Moment ein als sie begriff, dass alles Zappeln und Zerren sinnlos war. Und auch das Schreien.
Wenn sich später jemand über ihre Stimme wunderte, sagte Mutter Irmgard stets: „Das ist vom Schreien.“ Bubenstimme. Stimmbruch. Es hiess, sie müsse ihre Stimme schonen. Sie bekam Singverbot in der Schule und war froh. Die andern auch. Jahrzehnte später wurde ihr klar, dass sie noch nie so laut gesprochen, gesungen oder geschrien hat, wie sie eigentlich könnte. Sie brauchte nie ein Mikrofon. Aber die seltsame Stimme war nicht das einzige, was an dem Kind nicht stimmte.
Theresia, Irmgards Freundin, sprach es als erste aus: „Das Kind schielt!“ Es war auch nicht zu übersehen. Besonders das rechte Auge gehorchte eigenen Gesetzen: Es konnte teilnahmslos geradeaus blicken, um plötzlich schräg nach oben zu entschwinden und das Gesicht zu entstellen. Eine hübsche Tochter würde das nie werden. Die Brille, die man der kleinen Mira aufsetzte, brachte nichts. Weder sah sie damit besser aus noch konnte sie damit besser sehen. Die Brille war nichts als ein Kostenfaktor, weshalb sie ständig zu hören bekam: „Aber pass auf die Brille auf!“ Sie tat es nicht. Weil sie nicht auf etwas achtgeben konnte, das auf ihrer Nase sass.
An einem nassgrauen Wintertag, der Schnee war bereits in Regen übergegangen, kämpfte sich Mutter Irmgard mit dem Kind an der Hand gegen den Wind vorwärts. Neben ihnen stemmte sich die Nachbarin Frau Gruber mit der kleinen Erika dem Schneeregen entgegen. Erika müsse ihr auch die Hand geben, verlangte Mira, als man sich gerade anschickte, die Brücke zu überqueren. Aber hier war das Trottoir zu schmal, und Erika wollte sowieso nicht. Darüber wurde das Kind so wütend, dass es sich die Brille aus dem Gesicht riss und vor sich in den Schneematsch warf. Diagnose: Jähzorn. Mira sieht noch immer Mutter Irmgards linken Schuh, wie er eine der Brillenhälften vor sich herkickt. Und Vater Alfons, wie er versucht, die Brillenteile über der Gasflamme zu schmelzen und wieder zu vereinen. Es misslang. Sie bekam ein unzerbrechliches so genannt amerikanisches Drahtgestell.
Die Augenklinik lag nur eine Strasse weiter. Dort wurden den frisch operierten Kindern beim Zubettgehen „Ärmelchen“ verpasst – Kartonröhren, die auf dem Rücken miteinander verbunden waren. So lagen die Arme steif auf der Bettdecke, und die Hände konnten nicht zu den Augenverbänden gelangen, unter denen es juckte. Einmal fiel Mira nachts aus dem Bett. Mit den steifen Kartonarmen war das Hochklettern nicht einfach. Warum sie dann, kaum oben angekommen, mitsamt der Decke auf der anderen Seite des Bettes runterfiel, kann sie sich nicht erklären. Aber sie erinnert sich, dass sie hatte lachen müssen. Für ein paar Sekunden hatte sie die Szene von aussen betrachtet und fand sie komisch.
Den Augenoperationen waren zahlreiche Besuche in der Tagesklinik vorausgegangen. Ein sparsam beleuchteter Wartesaal, eine Stimme aus einem Lautsprecher. Jedesmal, wenn der Name Sturer Mira aufgerufen wurde, zerrte Mutter Irmgard das Kind von der Bank hin zu einem Schalter. Die ersten Male liess Mira es stumm verwundert geschehen, aber dann rief sie entrüstet: „Wir heissen doch Burgstein!“ – „Eine Verwechslung“, stammelte die Mutter. Noch war das Kind zu klein um sich zu fragen, wie man überhaupt auf einen falschen Namen reagieren konnte. Aber die Anspannung in Mutter Irmgards Stimme beim hastigen Ausstossen der knappen Antwort war ihm nicht entgangen. Und in den kommenden Jahren würde man ihm noch manchen zähen Brocken hinwerfen, an dem es dann still und vergeblich kaute.
Zum ersten Mal in einer Kirche. In der ersten Reihe. Schräg drang das Winterlicht durch die Bilderscheiben und beleuchtete die Szene. Zu Hause hatte man geprobt. „Wenn er dir mit Wasser über die Stirn fährt, dann hältst du still!“, hatte ihr Mutter Irmgard eingeschärft. Alles, was Mira verstanden hatte war, dass sie heute getauft werden sollte. Deshalb die weissen Strumpfhosen und das lächerliche braune Samtkäppchen.
Sie betrachtete die Stäubchen, die im Lichtstrahl tanzten sowie den Säugling, der da vorne über ein Becken gehalten wurde. „So kommen wohl die Kinder zur Welt“, stellte sich Mira vor. „Auf einem Lichtstrahl, der durch eine Ritze in den Fensterläden ins Zimmer dringt, wo ein Bett vorbereitet worden ist.“ Neben den Leuten mit dem Säugling stand ein Junge, kleiner als Mira. „Wird der auch getauft?“, fragte sie laut flüsternd die Gotte neben sich. „Der ist schon getauft.“ - „Warum ist der schon und warum werde ich erst heute?“ Aber da fasste man sie bei den Händen und ging mit ihr zu dem Becken. Sie nahm kaum Notiz von dem Mann im schwarzen Kleid und seinen Worten. Die Wassertropfen kitzelten, als sie Richtung Nase rannen. Kaum hatte man sich zum Gehen gewandt, wischte sich Mira diese Taufe im Namen des Vaters mit einer brüsken Bewegung von der Stirn. Etwas daran stimmte nicht. Die Erwachsenen schienen rund um sie herum ein unverständliches Theaterstück aufzuführen.
Fräulein Läubli schneite einfach immer so herein. Oder hatte sie ihre Besuche angekündigt? Und wenn ja, wie? Ein Anruf war ausgeschlossen, denn es gab in der Wohnung kein Telefon. Aber wahrscheinlich gehörte es zu ihrer Aufgabe, überraschend aufzutauchen, um den Anwärtern keine Zeit zu lassen, sich in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Zu Irmgards Bestürzung reagierte das Kind von Anfang an mit Ablehnung auf die falsche Freundlichkeit dieser Person. Was hatte die in seinem Zimmer zu suchen?! Widerwillig zeigte ihr Mira eine Packung mit bunter Knetmasse. Die Schachtel enthielt auch eine Art spitzen Griffel, über dessen Verwendungszweck sie sich noch nicht ganz im Klaren war. „Damit kann man ganz spitze Näschen machen“, erklärte das Fräulein und verspielte auch noch den letzten Rest an Respekt vonseiten des Kindes. Es war zwar erst etwa drei oder vier Jahre alt, aber es hatte von andern Kindern schon deutlich zu verstehen bekommen, dass seine Nase zu lang und zu spitz war. Warum also musste Fräulein Läubli ausgerechnet in dieser Wunde bohren? Und erst noch mit einer Falschaussage. Denn obwohl Mira den spitzen Griffel noch kaum ausprobiert hatte, war ihr klar, dass man damit Löcher stechen oder Rillen ziehen, aber sicher nicht Nasen spitzen konnte. Bei der nächsten Begegnung - sie fand zufällig beim Einkaufen statt - weigerte sich Mira, Fräulein Läubli die Hand zu geben. Stumm liess sie danach Mutter Irmgards Fragen und Vorwürfe über sich ergehen, unfähig, ihre Gefühle auszudrücken. Der Begriff «Sozialarbeiterjargon» fällt ihr erst heute dazu ein. Und sie fragt sich, ob sie sich damals eigentlich mit ihrem Verhalten in Gefahr gebracht hatte. Was brauchte es, damit Eltern die Kinder wieder weggenommen wurden?
Der erste Kindergartentag. Alle Mütter kamen mit ihren Kindern an der Hand. Einzig Mutter Irmgard ging auch wieder mit ihrem Kind an der Hand. Die Kindergärtnerin hatte gemeint, es sei besser, wenn sie dieses Kind, das sich nicht von ihr trennen wollte, wieder mit nach Hause nähme. Mutter Irmgard war das unangenehm. Mira auch. Aber die Angst vor der Trennung war grösser als die Angst vor Strafe. Am Nachmittag desselben Tages, als Nachbarskinder sie abholen wollten, hängte sie sich schreiend an die Türklinke. Dafür gab es Bett und Dunkelhaft. Mutter Irmgard war ratlos. Einen Liebesbeweis vermochte sie in dieser Trennungsverweigerung nicht zu sehen. Das war es auch nicht. Das Kind traute einfach dem Versprechen nicht, dass man nach zwei Stunden Singen, Spielen und Spazieren wieder nach Hause gehen durfte. Zwei Jahre später, bei der Einschulung, als sich alle auf dem grossen Pausenhof einzufinden hatten, beobachtete Mira mit leisem Triumph ein Mädchen, das sich nicht von seiner Mutter trennen wollte. Diese Ängste hatte sie inzwischen überwunden, dachte sie.
Wenige Wochen, bevor Mira in die Primarschule kommen sollte, war sie einmal mehr krank. Da brachte ihr Nicole, ein etwas älteres Nachbarskind, ein Geschenk ans Bett: 57 solide bräunliche Blätter, gelocht und mit einer Schnur zusammengehalten. Auf der ersten Seite waren ein Mädchen und ein Junge abgebildet, darunter stand „Anneli und Hansli“. Mit jedem Blatt kamen neue Bilder und neue Wörter hinzu, und als Mira beim letzten Blatt angekommen war und das Bett wieder verlassen durfte, konnte sie lesen. In ihrer Erinnerung hatte dieser Lernprozess wie durch Zauberhand stattgefunden, ohne jede Anstrengung. Bestimmt hatte sie hin und wieder Mutter Irmgard oder Vater Alfons gefragt, was denn dies oder jenes heisse. Jemand musste ihr erklärt haben, das man Sch nicht S-ch ausspricht. Aber vielleicht war da ein Schuh abgebildet und dann war ja klar, dass man nicht S-chuh sagt. Von nun an war kein Buchstabe mehr vor dem Mädchen sicher, auch wenn es ausserhalb von „Anneli und Hansli“ noch auf viele Hindernisse stiess. So stand am Haus gegenüber in grossen braunen Buchstaben ACV ALLGEMEINER CONSUMVEREIN BEIDER BASEL, und Mira las zuerst Zonsumverein, liess sich aber sofort eines Besseren belehren. Das „beider Basel“ machte mehr Schwierigkeiten, denn auch die Erwachsenen konnten das nicht richtig erklären; schliesslich war Basel einmalig. Und so behalfen sich Generationen von Schulkindern mit der notdürftigen Erklärung, es handle sich um Gross- und Kleinbasel. Brenzlig wurde es für Irmgard, wenn Miras Leseversuche ungewollt das Terrain der deutschen Sprache verliessen. So entdeckte sie einmal an einer Litfassäule ein Wort mit seltsamen e: Amédé. Zum Glück wusste die Mutter: „Das ist französisch“ und konnte aufatmen. Im Gegensatz zu Alfons nahm Irmgard das Lernen sehr wichtig, was wiederum ein Glück für die Tochter war.
Selbstverständlich hätte Mira auch in der Schule lesen gelernt, wo die «Anneli-und-Hansli-Blätter» in den folgenden Wochen und Monaten ebenfalls ausgeteilt wurden; neue saubere Blätter, deren Zeichnungen noch nicht von Nicole ausgemalt worden waren. Mira wunderte sich, wie schwer sich manche ihrer Mitschülerinnen mit dem Lesen taten. Die lernten es eben nicht im Bett, mit Tee und einem Hustensirup, der unverschämt gut nach gesüssten Bittermandeln schmeckte. Er wurde, so erfuhr Mira später, bei Bronchitis empfohlen, besonders bei Kindern, die an Tuberkulose erkrankt waren.
Das Bett blieb Miras liebster Leseort, und das Leseglück wurde zur einzigen wirklichen Konstanten in ihrem Leben. Aber eigentlich staunt sie noch immer, dass es überhaupt möglich ist, ein paar Striche, Kreise und Punkte anzuschauen und daraus im Kopf eine Geschichte werden zu lassen.
Ab Herbst schrieb man mit Tinte. Die gusseisernen Tintenfässer, die in die Pulte eingelassen waren, wurden eines Tages von Schulabwart Sommerhalder mit Tinte gefüllt. Dazu trug er einen messingfarbenen Tank auf dem Rücken, aus dem seitlich ein langes metallenes Röhrchen ragte. Wie eine dicke blaue Biene bewegte sich Sommerhalder von Gefäss zu Gefäss, steckte das Röhrchen hinein, drückte auf einen Hebel und füllte sorgsam blauschwarze Flüssigkeit ein. Sämtliche Erstklässlermütter verfluchten ihn noch am selben Tag leise dafür, als sie der Schürzen und Pullover ihrer Kinder ansichtig wurden.
Geschrieben wurde mit Stahlfedern, deren zwei Hälften sich vorne merkwürdig aufrollten als wären sie mit einer winzigen Lockenschere bearbeitet worden. Das Eintauchen und Abstreifen der Feder, die in einem unelegant kurzen Federhalter steckte, gelang Mira problemlos, das Aufsetzen und Führen hingegen nicht. Entweder ging sie zu zögerlich ans Werk, was einen schwächlichen Strich hervorbrachte. Oder sie drückte so stark, dass die beiden Hälften der Feder sich spreizten und einen formlosen Balken produzierten, der nie ein Buchstabe werden konnte. „So also sieht das bei mir aus wenn ich schreibe“, stellte Mira fest. Ihre künftigen Lehrerinnen und Lehrer sollten es nicht bei dieser nüchternen Feststellung bewenden lassen und verordneten Schönschreibstunden. Seither schämt sich Mira, wenn sie auf einem Blatt Papier oder im Notizbuch ihrem Geschriebenen begegnet, und noch immer sucht sie nach ihrer Handschrift. Mal ist diese klein und knausrig, mal gross und schwungvoll. In der Regel vermischt sie Druckschrift und Schreibschrift. Um dann plötzlich Grossbuchstaben mit Unterschleife hervorzubringen, wie sie auf dem Kärtchen abgedruckt gewesen waren, das man an die Erstklässler verteilt hatte. Meist stehen die Buchstaben aufrecht da, manchmal leicht nach vorn geneigt, wie man es ihr beigebracht hatte. Aber noch heute kann es passieren, dass sich ihre Schrift nach hinten neigt, wie damals in der Mittelschule, wo solches als lässig galt. Dies lasse, so hat Mira später einmal gelesen, auf eine gewisse Unreife schliessen.
An einem gewitterschwarzen Nachmittag machte die Lehrerin einen Fehler. Sie zündete das Licht an. Zum allerersten Mal verwandelte sich das grosse dunkelrot getäfelte Klassenzimmer im Erdgeschoss in ein Abendzimmer. Weisse Kugeln beleuchteten vierzig kleine Mädchen und ihre Schreibhefte auf den schrägen Pulten. „Es ist Abend!“, durchfuhr es Mira. „Bald wird es Nacht, und ich bin nicht daheim! Die Lehrerin behält uns hier!“ Ein Blick auf eine Uhr hätte dem Kind gezeigt, dass es erst halb vier war. Aber damals besassen Kinder keine Armbanduhren. Auch in den Schulzimmern gab es keine Wanduhren, die den kleinen Seelen das Ende ihrer Qualen absehbar gemacht hätten. Und da erfasste das Mädchen eine würgende Angst, die seine Augen hinter den Brillengläsern zum Glänzen brachte. In seiner Not wandte es sich an die Lehrerin und fragte mit heiserer Stimme: „Nicht wahr, wir haben um vier aus?“ Als es den Blick wieder senkte, senkte sich auch eine dicke Träne, lief die Wimpern entlang und zerplatzte nass und rund auf dem Löschblatt. Die erlösende Antwort der Lehrerin, die die Angst vor einer Nacht im Schulhaus wie einen Spuk hatte verschwinden lassen, machte diese Pfütze lächerlich. Wütend stach Mira mit der Feder in den weichen Kreis. Er sog die Tinte gierig auf. Bis zur letzen Seite dieses Schulheftes sollte der blaue Punkt auf dem Löschblatt sie an ihre peinliche Not erinnern.
Mira lag in Vater Alfons’ Bett und wusste: „Die kommen nicht mehr.“ Es genügte, den Kopf nach links zu drehen zum Wecker mit den wundersam grünlich leuchtenden Ziffern und Zeigern, um sich zu vergewissern, dass keine Hoffnung mehr bestand. Zehn nach zwölf. Da ertönte eine Polizei-Feuerwehr-Ambulanz-Sirene, was damals nicht oft vorkam. Ein weiteres untrügliches Zeichen dafür, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie kroch unter der hochgewölbten Federdecke hervor, schlüpfte in die roten Pantöffelchen, die sie nach dem Kauf aus lauter Freude mit ins Bett genommen hatte, die ihr aber im Moment überhaupt nichts mehr bedeuteten, zog das rot und blau gestreifte Strickjäckchen an, nahm den Schlüsselbund mit dem überlangen alten Hausschlüssel an sich und verliess die Wohnung, den Hausgang, das Haus. Nach links, dann beim Coiffeurgeschäft um die Ecke die Strasse hinauf. Wenigstens wusste Mira, wohin die Eltern gegangen waren und von wo sie, falls sie jemals wiederkehren würden, zu erwarten waren oder wo sie überfahren, überfallen oder sonstwie verunglückt herumliegen mussten.
Am anderen Morgen würde sich Mira bewusst werden, wie lächerlich sie in ihrer hellrosa Pyjamahose und den Pantöffelchen ausgesehen hatte, als sie in der Dunkelheit dem grossen Platz zustrebte und den Schlüsselbund vor sich hertrug wie eine Bananenschale, für die man noch keinen Abfallkorb gefunden hat. Jetzt hatte sie nur Angst. Ein schwarzes Auto hielt am Strassenrand. Eine Frau rief sie herbei, und sie gehorchte, so wie sie immer gehorchte, ging nach Hause, legte Pantöffelchen und Jäckchen ab und schlüpfte zurück in Papis Bett. Die Aufregung war gewichen, sie nahm ihr Schicksal an. Zwar würden die Eltern nie mehr kommen, aber eines Tages würde man dieses alte Haus abreissen und dann, spätestens dann, würde man sie finden.
Mutter Irmgard fand das Jäckchen am falschen Platz. Mira gab alles zu. Es war ohnehin zwecklos, etwas zu erfinden, also erfand sie nie etwas. Die Schmach, die Scham waren grenzenlos. Vor allem als Mutter Irmgard die Geschichte der Nachbarin erzählte und nicht vergass zu erwähnen, das Kind habe versucht, alles wiedergutzumachen, indem es anderntags im Hallenbad sieben Züge ohne Schwimmring geschwommen sei.
Mira lernte schwimmen. Aber sie lernte nie, Sirenen in der Nacht nicht zu hören. Später, in einer Zeit und in einer Stadt, in der Sirenen zum Hintergrundgeräusch gehörten, war ihr noch jedes Mal klar, dass der Geliebte jetzt irgendwo plattgefahren oder kaputtgeschlagen herumlag und jede Hilfe zu spät kam. Anders als früher wartete sie jetzt nicht mehr auf die Abbruchfirma. Es gab Bücher, Jack Daniels oder „Die dargebotene Hand“.
Ein Dorf, irgendwo. Die kleine Mira besuchte mit Mutter Irmgard und deren Freundin Elsa irgendwelche Bekannte auf dem Land, die einen kleinen Lebensmittelladen führten. Das Schaufenster war voll mit hellblauen Schokoladepackungen und Mira staunte, als man ihr eine dieser Packungen in die Hand drückte. Sie war leicht - und leer! Eine Atrappe. Ob man ihr auch richtige Schokolade gegeben hatte, weiss Mira nicht mehr. Aber sie erinnert sich genau, wie sie Vater Alfons am Abend die leere Packung überreichte. Der freute sich mächtig – und war dann so bitter enttäuscht ob der Täuschung, dass er ihr Vorwürfe machte. Das betrübte sie sehr. Sie hatte ihm nicht weh tun wollen. Hatte gedacht, er würde das auch lustig finden, Schokolade-Packungen, in denen gar keine Schokolade drin ist. Aber ein bisschen übertrieben fand sie die Reaktion des Vaters schon. Sollte man denn nicht bereit sein, über einen gelungenen Witz zu lachen, auch wenn er auf eigene Kosten ging? Ging es denn nicht immer und überall um die gute Darbietung?
Der Coiffeur blickte auf das Kind herab und sagte: „Mit deinen langen Wimpern solltest du Schauspielerin werden.“ Daran gewöhnt, dass man den Erwachsenen immer zu gehorchen hatte, lebte Mira von da an mit dem Auftrag, Schauspielerin zu werden. Auf dem Thron im Coiffeur-Salon hatte sie sich nichts darunter vorstellen können. Aber nach und nach verband sie das Wort mit den Bildern, die sich ihr bei den seltenen Besuchen im Theater oder im Kino eingeprägt hatten: Zwei Kinder im Nachthemd, die auf dem Mond ein Maikäferbein holen mussten. Ein verwitweter Vater, der seine sieben Kinder mittels Trillerpfeife antanzen und der Grösse nach aufstellen liess. Ein junger Mann, der einen Mühlstein auf der Schulter mit sich herumtrug. Sie alle wurden von Schauspielern dargestellt. Bald konnte sich Mira nichts Wunderbareres mehr vorstellen, als ihnen zuzuschauen. Vor der Vorstellung rutschte sie auf ihrem Sitz herum, räkelte sich im Schaumbad-und-Champagnergefühl der Erwartung. Bald würde sich der Vorhang öffnen! Sie hatte dieses Gefühl lange vor ihrem ersten Glas Champagner gekannt, und sie empfand es auch noch Jahrzehnte später, als die meisten Kinos keine Vorhänge mehr hatten und ihre Besucher mit einer nackten Leinwand begrüssten. „Wie soll da ein Film laufen, auf diesen vielen Falten?!“, hatte Ruth gefragt, Miras neue Schulkameradin. Sie war eben erst aus irgend einem Kaff in die Stadt gezogen und konnte nicht wissen, dass der Vorhang geöffnet werden und vor ihnen eine riesige Rolle, ähnlich einer Schriftrolle, abgespult werden würde. Es dauerte Jahre, bis Mira ihren Irrtum bemerkte, und dies auch nur, weil sie sich einmal während der Vorstellung umgedreht und den Lichtschein bemerkt hatte, der durch den ganzen Saal ging.
Die Wonnen des Kinos und des Theaters wurden von Mutter Irmgard ermöglicht. Vater Alfons wäre nie auf die Idee gekommen; schliesslich war er als Kind auch nie im Kino gewesen. Jetzt gönnte er sich das Vergnügen alle zwei, drei Monate und schaute sich einen Kriegsfilm an. Einer hiess „Hunde, wollt ihr ewig leben“, und das Kind fragte sich, ob denn da auch Hunde mitspielten. Bevor Vater Alfons das Haus verliess, wusch und rasierte er sich am Schüttstein in der Küche; im Badezimmer gab es kein Waschbecken. Mira sass am Küchentisch beim Abendessen - Griesspudding, Birchermüesli oder Fotzelschnitten - und schaute ihm zu. Die graugrünen Hosenträger hatte er heruntergelassen, das Hemd ausgezogen. Sie staunte, wie gross und rund seine Schultern und Oberarme waren, und war traurig, dass er an diesem Abend nicht daheim sein würde.
Einmal im Jahr leistete sich Irmgard einen Besuch im Stadttheater, um sich eine Operette anzusehen, gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar und natürlich mit Alfons. Das Ereignis war jeweils mit hektischen Vorbereitungen verbunden. Prompt schnitt sich Alfons beim Rasieren und musste aufpassen, dass er das weisse, gestärkte Hemd nicht versaute. Während er Manchettenknöpfe und Krawatte montierte, schoss Mutter Irmgard zwischen Schuhschränkchen und Spiegelkommode hin und her bis das schwarze Kleid mit den roten Punkten sass und die richtigen Schuhe und die passende Kette gefunden waren. Irmgard jedoch agierte als fröhliche Täterin, während Vater Alfons das gutmütige Opfer abgab.
„Was möchtest du denn einmal werden?“ An diese Frage kann sich Mira nicht erinnern. Gut möglich, dass sie auch nie gestellt worden war. Die meisten Erwachsenen in ihrer Umgebung waren der Meinung, dass ein Mädchen nicht viel zu werden brauchte, da weibliche Berufstätigkeit nur der Überbrückung diente bis das Karriereziel – die Ehe – erreicht war. Was Miras Klassenkameradinnen aber nicht davon abhielt, Kindergärtnerin oder Primarlehrerin oder gar Säuglingsschwester werden zu wollen. Das irritierte sie; mit Kindern wollte sie nichts zu tun haben. Die lachten sie ja doch nur wegen ihrer grossen Nase aus. Vor allem aber konnte sie sich nicht vorstellen, wie man den Wunsch verspüren mochte, andere Menschen zu pflegen oder ihnen etwas beizubringen. Auch Berufswünsche wie Verkäuferin oder Postbeamtin machten sie ratlos. Wo blieb da der Glanz, das Geheimnis? Zum Glück hatte sie die Weisung bekommen, Schauspielerin zu werden. Der leichtfertig geäusserte Satz, vom Coiffeur von oben herab in ihr dünnes Haar gesprochen, hatte sich im Laufe der Jahre immer tiefer in ihrem Kopf eingraviert. „Ich möchte entdeckt werden!“, sagte sie, als Grossonkel Hans und Tante Hermine zu Besuch waren. „Sei froh, dass Papi dich entdeckt hat“, meinte Vater Alfons, und Mira fragte keck zurück: „Als was?“ Onkel Hans überbrückte die entstandene Stille mit der Bemerkung: „Als kleinen Schreihals.“ Mira spürte deutlich, dass das eine Anspielung war, sie wusste nur nicht genau, worauf.
Eine Zeitlang wurde sie der Film- und Theaterwelt untreu und wollte Detektiv werden. Das war, nachdem Vater Alfons einen Fernseher angeschafft hatte und sie mit ihm zusammen die Kriminalfilmchen im Vorabendprogramm sehen durfte. Mutter Irmgard konnte über diesen deplazierten Wunsch nicht einmal lachen. Aber ihre Meinung war ohnehin gemacht. „Unsere Mira geht einmal ins Büro“, hörte die erstaunte Tochter sie beim nachmittäglichen Kaffee und Kuchen zu einer Freundin sagen. Büro? Das war das, was Mutter Irmgard an Samstagnachmittagen und später jeden Abend putzen ging. In den Büros der vornehmen Anwaltskanzlei war ihr wohl der Gedanke gekommen, es müsse sehr schön sein, in einer so gediegenen Umgebung arbeiten zu dürfen. Darüberhinaus hatten die Sekretärinnen Kontakt zu Herren mit Doktortitel, und wer weiss … Als Irmgard in späteren Jahren abends zu müde war, um noch einmal das Haus zu verlassen, schickte sie die Tochter hin, um wenigstens die Papierkörbe und Aschenbecher zu leeren und die Fenster zu schliessen. Sie würde dann frühmorgens aufstehen und den Rest erledigen. Mira besah sich schüchtern die eleganten Räume mit den schweren dunklen Möbeln und den dicken Teppichen. Wirklich interessant fand sie nur die altmodischen Karikaturen, die der eine Anwalt in seinem Büro aufgehängt hatte. Die bescheidenen Pültchen der Sekretärinnen mit den grossen Schreibmaschinen, die unter Wachstuchhüllen dösten, die ordentlich gefüllten Papierfächer und die leicht verschmierten Stempelkissen hatten hingegen gar nichts Verlockendes. Mira blieb bei der Bühne, brachte gute Deutschnoten nach Hause, wurde fürs Gedichteaufsagen gelobt und spielte den Gessler im Schülertheater. Als sie später dann auch noch einen Freund hatte, für den es ebenfalls nur ein Dasein auf der Bühne geben konnte, stiess Mutter Irmgard einen ihrer schneidenden Lachschreie aus und rief: „Eine Schreinerstochter als Schauspielerin! Das ist ja lachhaft! Und weisst du auch, was du da machen musst, um Rollen zu bekommen, hm?! Dazu bist du nicht der Typ!“ Was es da zu machen gab, ahnte sie dunkel. Sie schob ihren Wunsch sofort auf und ging erst mal ins Büro. Eine solide Ausbildung in einem sicheren Beruf konnte schliesslich nicht schaden. Also spielte sie Sekretärin, Assistentin, Ehefrau, Hausfrau und immer und vor allem: Tochter.
Hedwig richtet sich auf und trocknet ihre Tränen. Jetzt müssen Sie mir sagen, was das zu bedeuten hat. Weshalb will Vater nichts mehr von mir wissen?
Gregers. Das dürfen Sie erst fragen, wenn Sie gross und erwachsen sind.
Hedwig schluchzt. Aber ich kann doch nicht immer so grässlich betrübt bleiben, bis ich gross und erwachsen bin. – Ich weiss schon, was es ist. – Vielleicht bin ich nicht Vaters richtiges Kind.
Gregers unruhig. Wie sollte das wohl zugehen?
Hedwig. Mutter kann mich ja gefunden haben. Und nun hat es Vater vielleicht erfahren. Von solchen Sachen habe ich schon gelesen.
Gregers. Na, und wenn es so wäre –
Hedwig. Ja, ich meine, dann könnte er deswegen mich doch ebenso lieb haben. Ja, vielleicht noch lieber. Die Wildente, die haben wir ja auch zum Geschenk bekommen, und doch habe ich sie so furchtbar lieb.
Gregers ablenkend. Ja, richtig! Die Wildente! Reden wir ein bisschen von der Wildente, Hedwig.
Mira sah Henrik Ibsens Stück „Die Wildente“ mit knapp zehn Jahren bei Tante Frieda. Die sass den ganzen Tag mit hochgelagerten Beinen vor dem Fernseher und rauchte. Und weil es nur ein Programm gab, schaute man neben Shows mit Peter Frankenfeld auch ernste und schwere Sachen, wie Mutter Irmgard alles Unvergnügliche zu nennen pflegte. Mira war von der Geschichte so aufgewühlt, dass sie den eigentlichen Schluss ausblendete. Sie blieb bei der ersten Vermutung, Hedwig habe nicht sich sondern die Wildente erschossen, und fand dies als Liebesbeweis dem Vater gegenüber durchaus in Ordnung. Ein paar Jahre danach, im Theater, war sie von Hedwigs Selbstmord erschüttert und fand, dies alles wäre nie soweit gekommen, hätte man von Anfang an die Wahrheit gesagt. Die zentrale Ausssage des Stückes: „Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nehmen Sie ihm sein Glück“, bekam sie damals nicht mit. Später fühlte sie beim Wort „Lebenslüge“ stets ein Unbehagen, obwohl sie es nie ganz verstand oder vielleicht gerade deswegen. Ihre Haltung gegenüber der „Wildente“ blieb nahezu unverändert: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Aber manchmal kamen doch Zweifel auf, ob Gregers mit seinem manischen Schürfen und Bohren nicht unnötiges Leid verursacht hatte. Und ganz abgesehen davon hegte sie manchmal auch Zweifel daran, ob sie wirklich für die Bühne taugte.
Louis Jeanneret, der Turnlehrer, war der Schwarm fast aller Schülerinnen an der Mittelschule. Einmal durfte Mira sein Handgelenk umfassen, um zu demonstrieren, wie man am Reck Hilfestellung leistet. Den Griff um den ausgeleierten Ärmel seines blauen Trainingsanzugs kann sie noch heute spüren, wenn sie will. Ihre Mitschülerin Mona wollte mehr. Das wilde Mädchen, das später Tänzerin werden sollte, raste absichtlich in die Tür der Turnhalle, stellte sich ohnmächtig und liess sich in Jeannerets Armen zur nächsten Schwebekante tragen. Mira war nicht neidisch auf dieses Privileg. Nur ein Talent wie Mona konnte einigermassen glaubhaft ein halbtotes Schneewittchen auf den Turnhallenboden legen, jede andere hätte nur eine peinliche Vorstellung gegeben. Mona versuchte Jeanneret und testete zugleich ihre Bühnenwirksamkeit. Heimlich vergötterte Mira die angehende Tänzerin und fing selber an, mit auswärts gedrehten Füssen zu gehen. Was bei ihr nicht nach Ballett aussah, sondern eher nach Chaplins Tramp. Wenn sie Mona beobachtete, blitzte manchmal kurz die Erkenntnis auf, dass ihr eigener Körper den Anforderungen der Bühne nicht gewachsen sei. In der Turnhalle und auf dem Sportplatz war sie eine Null. Jeanneret konnte sich nicht einmal ihren Namen merken und verwechselte sie stets mit der faden Helene. Obwohl sich Mira ihrer Unfähigkeit bewusst war, traf es sie hart, als der Turnlehrer einmal ihre Bewegungen als steif taxierte. Dieses Wort hatte sie von klein auf zu hören bekommen und war stets gekränkt gewesen, obwohl sie es nie richtig verstanden hatte. Warum sollte man beim Springen in die Knie gehen? Das war doch reine Zeitverschwendung. Für Mutter Irmgard war dieses Fehlen jeglicher Anmut eine weitere Enttäuschung. Das Kind hatte seine Füsse nicht unter Kontrolle und seine Hände auch nicht. Bleistifte, Gläser oder Haustiere wurden nicht gehalten, sondern umkrampft. Die Dinge gingen kaputt, die Tiere wehrten sich.
Mira schlug von klein auf überraschend heftig zu. Und konnte nicht begreifen, warum die anderen Kinder sich von ihr abwandten und davonrannten. Sie hatte sich doch nur an Erika gerächt, die sie hochgehoben und fallengelassen hatte, an einer Strassenecke auf dem Heimweg vom Kindergarten. Daraufhin hatte sie ihr die Faust in die Schläfe gerammt. Weiter nichs. Das hatte sie tun müssen, nachdem Erika ihr weh getan hatte. Auch als Mira die Episode am Sonntag am Familientisch erzählte, geriet die Demonstration ausser Kontrolle. „Ich hab doch nur so gemacht“, sagte sie und schlug Onkel Werner die Faust in die Schläfe. Zu stark. Sie verstand nicht, warum es ihm weh tat. Ihre kleine Faust? Die betreten dreinblickenden Grosseltern, Eltern, Onkel und Tanten mussten sich in diesem Moment gefragt haben, was in diesem Kind stecken mochte, wo dieses Verhalten wohl herkam?
Gewalt, so hatte Mira später einmal gelesen, sei eine Form von Kommunikation und werde von Menschen angewandt, welche die verbale Kommunikation schlecht beherrschten. Warum hatte sie dann so häufig zugeschlagen und wie eine Sprachlose reagiert? Oder waren in der kleinen Person Schläge und Sprache nicht doch ganz gut nebeneinander zurechtgekommen?
Was hatte Vater Alfons seiner Frau zugeflüstert, als er seine Lieben am Bahnhof abholte? Etwas, das Mira nicht hören sollte. Noch nicht. Aber verborgen bleiben konnte es ihr nicht lange, denn sie würde spätestens am nächsten Tag fragen, warum man Peter, den Wellensittich, noch nicht zurückgeholt hatte. Peter hatte nicht sprechen lernen wollen, aber auch sprachlos trug er viel zur Unterhaltung bei. Jeden Abend liess man ihn aus dem Käfig, worauf er sogleich auf den Lambrequin über dem Fenster flog, um die Welt von oben zu sehen, wie es sich für einen Vogel gehörte. Danach liess er sich hinabgleiten und landete meistens auf Miras Kopf. Die piekenden Krallen auf der Kopfhaut kann sie noch heute fühlen. Manchmal wählte Peter auch Mutters Stricknadeln als Zwischenstation. Sein hektisches Auf und Ab machte die Strickbewegungen erst sichtbar.
Und nun war Peter also tot. Gestorben während eines kurzen Ferienaufenthalts bei den Quendels. Den geizigen Quendels. War er verhungert? Hatten sie ihm die Körner weggepickt? Menschen, die am Abend dunkel angelaufene Salatreste vom Mittagessen als schlappe Fetzen aus der Sauce fischten, waren zu vielem fähig. Als nach Herrn Quendel auch Frau Quendel das Zeitliche segnete, sagte Vater Alfons zu Mutter Irmgard: „Siehst du, ein Leben lang haben sie gespart. Und jetzt? Jetzt haben sie einen Deckel auf der Nase!“
Am Tag nach der Reise lag das überempfindliche Kind krank in Vater Alfons’ Bett. Mutter Irmgard überbrachte Mira die traurige Nachricht und sie heulte los. „Ich will wieder einen Wellensittich!“, rief sie, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. Dann, in einer Mischung aus Übermut und Vorfreude: „Nein, ich will lieber einen Papagei!“ - „Du weißt doch, dass das in unserer Wohnung nicht geht!“, meinte Mutter Irmgard. Worauf Mira im kindlichen Steigerungsspiel ausrief: „Dann will ich einen Bruder!“ Es war der falsche Wunsch.
„Jetzt fängt die auch noch damit an!“, dachte Mira, als ausgerechnet die von ihr so sehr verehrte Lehrerein Fräulein Kopp fragte, ob sie früher Sturer geheissen habe. „Nein“, erwiderte sie, fest und beunruhigt, „ich heisse Burgstein!“ Die Lehrerin warf einen Blick in ihr Klassenbuch: „Oder heisst vielleicht dein Vater Sturer?“ – „Nein!!“ Der Name Sturer, dieses Missverständnis aus der Augenklinik, schien sie zu verfolgen. Sie hatte den Namen auch schon irgendwo gelesen. Fritz und Mina Sturer-Tanner hatte da gestanden. Sie wollte sich nicht daran erinnern. Wollte das Gehörte und Gelesene vergessen und verbannen. Die Lehrerin gab ihr einen Brief an die Eltern mit nach Hause. Sie traute sich nicht, ihn heimlich zu öffnen.
Vater Alfons wurde bei der Primarlehrerin vorstellig. Von ihrem Platz in der ersten Reihe sah Mira ihn draussen im Gang stehen, im Sonntagsanzug, ein gelbes Couvert in den Händen. Er nickte ihr aufmunternd zu. Das gelbe Couvert, auf dem er in gestochen scharfer Zierschrift „Familienbüchlein“ gemalt hatte, ging Jahrzehnte später in ihren Besitz über. Die rosafarbenen Blätter, die sie einmal im Schrank entdeckt hatte, musste Mutter Irmgard inzwischen entsorgt haben. Jedenfalls gab sie vor, nichts davon zu wissen. Dabei hätte das alte Kind das Geschriebene jetzt verkraftet. Damals, als 7-Jährige, hatte sie es nicht fertiggebracht, ihre eigene Geschichte zu lesen.
Mira sass auf dem Fussboden in Simons Zimmer. Der kleine Cousin hatte eine Spielzeugeisenbahn bekommen, und sie half ihm dabei, die Schienen im Kreis zu verlegen. Im Nebenzimmer plauderten die Eltern mit Alfons’ Bruder und seiner Frau, Onkel Werner und Tante Berti. Plötzlich wurde der Plauderton leiser. Für Mira war dies die Eingangsmelodie zu einer Kindersendung, die man nicht verpassen durfte. Sofort fuhr sie ihre Ohren aus und hörte Mutter Irmgard sagen: „Sie merkt alles. Sie hat auch gemerkt, dass du den Nikolaus gespielt hast.“ Ein Leben lang würde sich Mira darüber wundern, wie leichtfertig Eltern auch über Unsägliches sprechen, überzeugt, die Kinder würden schon nichts mitbekommen.
Die Sache mit dem Nikolaus war eine Beleidigung gewesen. Weil sie wieder einmal krank gewesen war, hatte sie bei der alljährlichen Nikolaus-Schelte im Haus der Grosseltern nicht dabei sein können. Stattdessen kam der Nikolaus ein paar Tage später zu ihr nach Hause, am hellichten Tag! Und erst noch ohne Bart! Nur in einer schwarzen Kapuzenpelerine. Aber damit nicht genug. Kaum hatte das immerhin schon mehr als acht Jahre alte Mädchen seinen Spruch aufgesagt, den Tadel entgegen genommen und den Nikolaus verabschiedet, da klingelte es erneut. Diesmal war es Onkel Werner. Er begrüsste Mira fröhlich, legte seine pralle braune Mappe auf den Tisch und entnahm ihr einen Lebkuchen. In der Mappe, das konnte sie deutlich sehen, lag ein zusammengefaltetes schwarzes Kleidungsstück. Warum nur waren die Erwachsenen immer so unvorsichtig?
Ein französisches Kindermädchen, das kaum Englisch sprach, brachte Cyril und Vyvyan Wilde, die Söhne von Oscar und Constance Wilde, im Frühling 1895 in aller Eile in die Schweiz. Cyril, bald zehn Jahre alt, ahnte, dass der Vater vor Gericht stand und sich eine Katastrophe anbahnte. Zwanzig Jahre später, kurz bevor er von einem deutschen Scharfschützen getötet wurde, schrieb er an seinen jüngeren Bruder Vyvyan: „Ich war neun Jahre alt, als ich den ersten Zeitungsaushang sah. Du warst auch dabei, aber du hast es nicht gesehen. Es war in der Baker Street. Ich fragte, was es bedeutete und erhielt eine ausweichende Antwort. Es liess mir keine Ruhe, bis ich es herausfand.“ Cyril sollte in seinem kurzen Leben nur ein Ziel verfolgen: Er wollte die Ehre der Familie wiederherstellen und wählte dafür die Militärlaufbahn.
Den eineinhalb Jahre jüngere Vyvyan trafen die Ereignisse völlig unvorbereitet. Die überstürzte Flucht aus England, nur mit dem allernötigsten Gepäck und ohne ein einziges Spielzeug, war ihm rätselhaft. Constance Wilde reiste ihren Kindern so bald wie möglich nach. Im Hotel du Righi-Vaudois in Glion verbrachten die drei eine relativ unbeschwerte Zeit. Bis Oscar Wilde am 25. Mai 1895 wegen Unzucht mit Männern zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer Zwangsarbeit verurteilt wurde. Der Fall fand auch Erwähnung in den Schweizer Zeitungen; Wilde war damals auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn als Schriftsteller und Theaterautor. Als der Hoteldirektor herausfand, wer die Frau und die zwei Jungen waren, fürchtete er um den guten Ruf seines Hauses und forderte sie höflich auf, dieses zu verlassen.
Bald darauf sah sich Constance genötigt, ihre Namen zu ändern. Aus Wilde wurde Holland. Vyvyans zweiter Vorname Oscar wurde gestrichen. In seinem Buch “Son of Oscar Wilde“, das er 1954 zum hundertsten Geburtstag seines Vaters herausbrachte, erinnert sich Vyvyan Holland an die verstörende Szene, als man ihm und seinem Bruder die Namensänderung verkündete: „Meine Mutter und mein Onkel waren so feierlich bei dem Ganzen, dass ich sofort merkte, dass etwas nicht stimmte. Aber es war ein vages Gefühl. Anders bei Cyril; er hatte bei einem Ferienaufenthalt bei Verwandten in Irland bereits zu viel entdeckt. Soweit ich mich erinnern kann, hat mein Bruder von diesem Tag an mir gegenüber nie wieder den Namen unseres Vaters erwähnt.“
Die Kinder sollten ihren Vater nie wiedersehen. Sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in der Familie der Mutter wurde Oscar Wilde totgeschwiegen, und so glaubte Vyvyan, sein Vater sei tatsächlich tot. Als die Mutter 1898 bei einer Operation starb, wähnte er sich als Waise. „Das Lähmende an der Tatsache, dass man keine Eltern hat, ist die ständige Gewissheit, dass da niemand ist, für den man der wichtigste Mensch auf der Welt ist. Und niemand, der dir eine Träne nachweint oder noch an dich denkt, falls du stirbst. Tatsächlich war mein Vater in Gedanken immer bei mir, aber weil man mir zu verstehen gegeben hatte, er sei tot, konnte ich dies nicht wissen.“
Wenn Mira heute ein Paar neue Strumpfhosen auspackt und dabei den dünnen weissen Karton mit den abgerundeten Ecken in der Hand hält, um den die Strumpfhosen gewickelt waren, dann denkt sie oft voller Rührung an Irmgard. Als sie ein Kind war, hatte ihr die Mutter dieses Stück Pappe immer zum Zeichnen gegeben. Heute, wo man die kindliche Kreativität mit möglichst grossen Papierbögen fördert, mag dies erstaunen. Aber damals musste ein kleines Format genügen, und es genügte auch. Einmal sass Mira mit ihren Farbstiften bei den Schweizer Grosseltern am Tisch. Neben ihr sass Tante Berti, die früher einmal in einer Porzellanfabrik Tassen, Teller und Vasen bemalt hatte. Jetzt zeichnete sie ihren kleinen Sohn Simon, der im oberen Stockwerk schlief, und begleitete jeden Bleistiftstrich mit zärtlichen Worten. Sie ähnelte dabei einer grossen Katze, die hingebungsvoll ihr Junges leckt. Irritiert blickte die Fünfjährige ihre Tante an. Solche Töne waren ihr fremd, und eine Ahnung beschlich sie, dass es Dinge gab zwischen Mutter und Kind, die sie nicht kannte. Sie wollte auch. Stolz blickte sie darum auf ihre eigene gelungene Zeichnung und verkündete laut: „Das Zeichnen hab ich von Tanti Berti!“ Gelächter. Lachte man sie aus? Sie verstand nicht. Diese Feststellung hatte sie doch schon so oft in unzähligen Abwandlungen gehört: „Das hat er vom Grossvater.“ – „Den harten Berner Grind hat sie eindeutig von der Mutter.“ – „Die dunklen Augen – eine typische Burgstein.“ Warum durfte sie nicht auch so etwas für sich beanspruchen?
Mit dem Freuen tat sich Mutter Irmgard schwer. Vorfreuden auf kommende Ereignisse dämpfte sie gewissenhaft mit Bemerkungen wie „Wenn nichts dazwischen kommt“ oder „Wenn wir dann noch leben“. Vorbereitungen auf Feste und Ferienreisen vergällte sie sich mit der Sorge um die passenden Kleider und mit der Aussicht, dass man hinterher wieder Unmengen von schmutziger Wäsche oder dreckigem Geschirr haben werde. War das Ereignis vorüber, stellte sie jeweils trocken fest: „Jetzt ist auch das wieder vorbei.“ Bei der Tochter nistete sich allmählich die Meinung ein, dass Freude, und vor allem Vorfreude, höchstens etwas für kleine Kinder war. Je grösser und erwachsener man wurde, desto mehr hatte man sich bewusst zu sein, dass jede Freude bereits Trauer und Enttäuschung, jeder Genuss bereits Reue in sich trug. Dass auch Mutter Irmgard einmal ein Kind gewesen war, lag ausserhalb des Möglichen. Und folglich auch der Gedanke, dass diese Frau sich früher auch einmal sorglos auf etwas gefreut hatte.
Wenn Mutter Irmgard wütend war, tobte sie nicht und schrie sie nicht. Die von Natur aus verkrampfte Person schien im Zorn zu erstarren, die Augen weit aufgerissenen, der Mund nur noch ein Strich. In solchen Momenten konnte es geschehen, dass sie das Kind Mina anstatt Mira nannte. Es wehrte sich nicht und stellte auch keine Fragen. Es hatte diesen Namen schon irgendwo gelesen und wusste, dass er etwas mit ihm zu tun hatte.
An eine Feier kann sich Mira nicht erinnern, wohl aber an die Torte. Ein Gebilde in Weiss und Rosa, auf welches mit Schokolade „Zur silbernen Hochzeit“ geschnörkelt war. Auf ihre Frage, was das bedeute, hatte Mutter Irmgard erklärt, sie und Papi seien heute fünfundzwanzig Jahre verheiratet. Fünfundzwanzig Jahre? Das schien ihr eine unendlich lange Zeit. Hatten nicht Lisas Eltern kürzlich ihren zehnten Hochzeitstag gefeiert? Und Lisa war neun Jahre alt. Das machte Sinn. Sie selber aber war demnach erst siebzehn Jahre nach der Hochzeit ihrer Eltern zur Welt gekommen. Darum waren Irmgard und Alfons jetzt auch schon so alt, nämlich bald Ende vierzig. Während die Eltern ihrer Schulkameradinnen in ihren frühen Dreissigern oder sogar erst Ende zwanzig waren. „Deine Eltern haben eben lange kein Kind bekommen“, meinte Lisa. Das klang zwar vernünftig, aber Mira befriedigte diese Erklärung nicht wirklich.
„Um wieviel Uhr bin ich eigentlich zur Welt gekommen?“, fragte Mira, als Mutter Irmgard gerade damit beschäftigt war, das dicke Barchentleintuch unter die Matratze zu stopfen. Sie hielt inne, warf einen hilfesuchenden Blick nach schräg oben und sagte: „Das weiss ich nicht mehr.“ Beunruhigt musste sich das Kind eingestehen: „Sie scheint es wirklich nicht zu wissen, hat es nie gewusst.“
Wohl gab es Zeiten, in denen Mira sich gewünscht hätte, in einem hellen, modernen Haus zu wohnen, mit glatten Türen ohne Füllungen, mit grossen Fenstern, die, wie es hiess, einfach zu putzen waren, mit einer Zentralheizung und einem richtigen Bad. So wie andere Leute. Aber im Grunde gefiel ihr das alte Haus mit seinen hohen Stuckdecken, dem knarrenden Parkett, den Terrazzo-Böden und verspielten Details. „Unser Haus sieht aus wie ein Schloss“, hatte sie einmal zu ihrer Freundin Lisa gesagt. Bis zur Familienwohnung im Parterre mussten vier Türen geöffnet und geschlossen werden. Durch das eiserne Gartentörchen gelangte man in den Vorgarten, wo Vater Alfons jedes Frühjahr in grossen Abständen mickrige Blümchen pflanzte. Über zwei Stufen erreichte man die massive Eichentür mit dem Messingknauf, den Irmgard regelmässig auf Hochglanz polierte. Wurde man eingelassen, musste man einen kühlen dunklen Gang durchqueren, wo damals, als die Frauen noch zu Hause blieben und dem Pöstler dreimal täglich die Tür öffnen konnten, die Briefkästen hingen. Es folgten weitere Stufen, ein Treppenabsatz und eine Windfangtür, die immer zu sein musste. Jetzt aber stand sie offen, die Haustür ebenfalls. Auf dem Treppenabsatz stand Mutter Irmgard und sprach mit einer unförmigen alten Frau, die den Gang beinahe ausfüllte. Beim Anblick des Kindes, das neugierig hinzugekommen war, rief die Alte: „Ist das Mira?! Die hat sich aber entwickelt! Wenn ich denke, wie sie aussah, als sie aus diesem Heim kam. Diese hängenden Arme!“ Mutter und Kind mussten danach wohl durch die grosse Eingangshalle mit dem Stern im Fussboden nach rechts durch die breite Tür mit den gemusterten Glasscheiben in die Wohnung gegangen sein. In Miras Kopf aber kreiste nur ein Wort: „Heim! Was denn für ein Heim?! Wo war sie gewesen? Wann? Wie lange?“ Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie nicht danach fragen durfte. Mutter Irmgard und Vater Alfons fragten auch nie. „Wer viel fragt, wird viel angelogen“, hiess es. Und so beschränkte man sich auf „Wie spät ist es? Regnets? War es schön? Hast du die Zähne geputzt? Wie ist es in der Schule gegangen?“ Nie fragten die Eltern, was in dem Gedicht vorkam, das die Kinder auswendig lernen mussten. Oder was Mira im Römermuseum gesehen hatte, in welchem die Klasse gewesen war. Wer fragt, weiss nicht. Wer nicht weiss, ist dumm. Wenn man sich als Erwachsener schon das Fragen verkneift, warum sollte sich dann ein Kind erdreisten dürfen, Fragen zu stellen? „Warum hat es unter dem grossen Stein im Garten so viele schwarze Tierchen? Warum habe ich keine Geschwister? Wer sind meine Eltern?“
Über ein Leben ohne Anfang
Biografischer Roman
Der falsche Name
„Jetzt hörst du aber auf damit!“, mahnte Mutter Irmgard, „sonst denken die Leute noch, du bist ein Äffchen!“ Mira hatte im Zoo schon oft den Affen auf dem Felsen zugeschaut, wie sie sich gegenseitig lausten. Aber die benutzten doch gar keinen Kamm! Widerwillig händigte sie Mutter Irmgard das kleine Etui aus, das ihr eine Tante geschenkt hatte. Es war ein scheussliches Ding aus dem neuen Material Plastik, welches Hausfrauen wie Irmgard endlich eine abwaschbare Welt ermöglichte, weshalb man den Ekel erregenden Geruch gerne in Kauf nahm. Dazu war das neue Etui auch noch zweifarbig, innen vanillegelb, aussen durchfallbraun. Auf der linken Innenseite war ein Spiegelchen aufgeklebt, auf der rechten steckte in einer kleinen Tasche ein Kamm mit bösartig spitzen Zähnen. Mit diesem hatte Mira immer wieder ihre Stirnfransen gekämmt und sich dabei betrachtet, ohne an die anderen Leute in dem düsteren Zugabteil zu denken. Mutter Irmgard zerrte nun die kleine Reisetasche unter ihrem Sitz hervor, um das Etui zu versorgen. Dabei musste ihr Rock ein wenig hochgerutscht sein und den Blick auf ihr rechtes Bein frei gegeben haben. Denn in diesem Moment rief das andere Kind im Abteil aufgeregt: „Mutti! Schau! Dort, an dem Bein der Dame! Was ist das? Schau doch!!“ Das Mädchen war etwa sieben Jahre alt, kaum jünger als Mira selber. Es wurde für sein allzu neugieriges Verhalten nicht zurechtgewiesen. Mira stellte einmal mehr verwundert fest, dass andere Mütter anders reagierten. Eigentlich hätte Mutter Irmgard dem Mädchen ganz einfach erklären können, was das war an ihrem Bein. Aber das war nicht Irmgards Art. Stattdessen erstarrte sie einfach, und mit ihr hielt das ganze Zugabteil für eine Minute die Luft an. Vater Alfons hatte die Szene nicht mitbekommen. Er hasste Zugabteile, in welchen man fremden Leuten gegenüber sass, und verbrachte deshalb den grössten Teil der Reise rauchend am Fenster im Gang. Aber selbst wenn er dabei gewesen wäre, hätte er sich nicht ritterlich vor seine Frau stellen können, denn Alfons sprach kein Hochdeutsch. Mira fühlte ein wenig Mitleid mit der erstarrten Mutter, vor allem aber fühlte sie sich schuldig. Denn sie wusste, dass die Geschwulst, die wie ein halbes hartes Ei an Mutters Bein klebte, ihre Schuld war. Weil sie damals, als die Eltern sie bekommen hatten, so krank gewesen war, dass Irmgard und Alfons Tag und Nacht auf den Beinen hatten sein müssen, um zu verhindern, dass der Säugling an seinen Keuchhustenanfällen erstickte. Mira wusste auch, dass ein Kind meistens selber schuld ist, wenn es krank wird. Weil es gerannt ist und dabei geschwitzt hat. Oder weil es unbedingt schon im Vorfrühling Kniestrümpfe hatte anziehen wollen, wie die andern Kinder auch. Vor allem aber wusste Mira, dass die Eltern eines kranken Kindes viel mehr leiden als das Kind selbst. Und sie war oft krank.
Miras erste Erinnerung ans Kranksein ist vielleicht nur Einbildung: Sie wird von Vater Alfons durch eine enge Eingangspforte getragen, vorbei an einer Glasscheibe. Das ist alles. Warum hätte man ihr eine so unwichtige Begebenheit erzählen sollen? Ganz bestimmt war es Vater Alfons gewesen, der sie damals ins Kinderspital getragen hatte, als sie mit zweieinhalb Jahren erkrankt war. An Tuberkulose, wie sie erst viel später herausfinden sollte. Aber dieses Wort hatte damals niemand in den Mund genommen. Mutter Irmgard hätte es nicht aussprechen können, und den ihr geläufigeren Ausdruck „Schwindsucht“ hätten beide Eltern nicht verkraftet. Dieses Kind durfte nicht auch noch verschwinden. Eine Lungenentzündung war darum das Äusserste, was sie ertragen konnten oder was ihnen die Ärzte im Spital zugemutet hatten. Zu Hause war es Vater Alfons, der sich um die Verarztung des Kindes kümmerte. Er war der Verwalter der Pflaster, Salbentuben und Mullbinden. Wenn Mira hingefallen war, und sie fiel oft hin, dann war er es, der ihre aufgeschlagenen Knie verband, vorwurfslos. Für die Vorwürfe war Mutter Irmgard zuständig. Sie musste ja die handgestrickten Strumpfhosen waschen und flicken, obwohl sie, wie sie selber mit Bedauern einräumte, den Maschenstich gar nicht richtig beherrschte.
Das Zimmer im Kinderspital sieht Mira noch heute deutlich vor sich. Niemand hatte es ihr schildern können, denn niemand hatte sie während der vier Wochen besuchen dürfen. Sie erinnert sich an Stöpheli im Bett neben ihr, der schrie, weil er sich keine Spritze verpassen lassen wollte, an Hansli, der so gelb war im Gesicht. Und an den Teddybären, den man ihr eines Tages hingehalten hatte. Im Unterschied zu den Puppen, die sie nie gemocht hatte, liebte Mira diesen Bären weit über ihr Kindsein hinaus.
Die stärkste Erinnerung ans Spital ist die an das Angebundensein: Sie hört sich schreien und spürt, wie sich ihre Arme auf und ab bewegen, auf und ab, auf und ab. Bis sie den Kopf zur Seite dreht und ihre Hand sieht. Eine weisse Gaze ist um das Handgelenk und um einen der Gitterstäbe des Bettes geschlungen. Das Bild fror in dem Moment ein als sie begriff, dass alles Zappeln und Zerren sinnlos war. Und auch das Schreien.
Wenn sich später jemand über ihre Stimme wunderte, sagte Mutter Irmgard stets: „Das ist vom Schreien.“ Bubenstimme. Stimmbruch. Es hiess, sie müsse ihre Stimme schonen. Sie bekam Singverbot in der Schule und war froh. Die andern auch. Jahrzehnte später wurde ihr klar, dass sie noch nie so laut gesprochen, gesungen oder geschrien hat, wie sie eigentlich könnte. Sie brauchte nie ein Mikrofon. Aber die seltsame Stimme war nicht das einzige, was an dem Kind nicht stimmte.
Theresia, Irmgards Freundin, sprach es als erste aus: „Das Kind schielt!“ Es war auch nicht zu übersehen. Besonders das rechte Auge gehorchte eigenen Gesetzen: Es konnte teilnahmslos geradeaus blicken, um plötzlich schräg nach oben zu entschwinden und das Gesicht zu entstellen. Eine hübsche Tochter würde das nie werden. Die Brille, die man der kleinen Mira aufsetzte, brachte nichts. Weder sah sie damit besser aus noch konnte sie damit besser sehen. Die Brille war nichts als ein Kostenfaktor, weshalb sie ständig zu hören bekam: „Aber pass auf die Brille auf!“ Sie tat es nicht. Weil sie nicht auf etwas achtgeben konnte, das auf ihrer Nase sass.
An einem nassgrauen Wintertag, der Schnee war bereits in Regen übergegangen, kämpfte sich Mutter Irmgard mit dem Kind an der Hand gegen den Wind vorwärts. Neben ihnen stemmte sich die Nachbarin Frau Gruber mit der kleinen Erika dem Schneeregen entgegen. Erika müsse ihr auch die Hand geben, verlangte Mira, als man sich gerade anschickte, die Brücke zu überqueren. Aber hier war das Trottoir zu schmal, und Erika wollte sowieso nicht. Darüber wurde das Kind so wütend, dass es sich die Brille aus dem Gesicht riss und vor sich in den Schneematsch warf. Diagnose: Jähzorn. Mira sieht noch immer Mutter Irmgards linken Schuh, wie er eine der Brillenhälften vor sich herkickt. Und Vater Alfons, wie er versucht, die Brillenteile über der Gasflamme zu schmelzen und wieder zu vereinen. Es misslang. Sie bekam ein unzerbrechliches so genannt amerikanisches Drahtgestell.
Die Augenklinik lag nur eine Strasse weiter. Dort wurden den frisch operierten Kindern beim Zubettgehen „Ärmelchen“ verpasst – Kartonröhren, die auf dem Rücken miteinander verbunden waren. So lagen die Arme steif auf der Bettdecke, und die Hände konnten nicht zu den Augenverbänden gelangen, unter denen es juckte. Einmal fiel Mira nachts aus dem Bett. Mit den steifen Kartonarmen war das Hochklettern nicht einfach. Warum sie dann, kaum oben angekommen, mitsamt der Decke auf der anderen Seite des Bettes runterfiel, kann sie sich nicht erklären. Aber sie erinnert sich, dass sie hatte lachen müssen. Für ein paar Sekunden hatte sie die Szene von aussen betrachtet und fand sie komisch.
Den Augenoperationen waren zahlreiche Besuche in der Tagesklinik vorausgegangen. Ein sparsam beleuchteter Wartesaal, eine Stimme aus einem Lautsprecher. Jedesmal, wenn der Name Sturer Mira aufgerufen wurde, zerrte Mutter Irmgard das Kind von der Bank hin zu einem Schalter. Die ersten Male liess Mira es stumm verwundert geschehen, aber dann rief sie entrüstet: „Wir heissen doch Burgstein!“ – „Eine Verwechslung“, stammelte die Mutter. Noch war das Kind zu klein um sich zu fragen, wie man überhaupt auf einen falschen Namen reagieren konnte. Aber die Anspannung in Mutter Irmgards Stimme beim hastigen Ausstossen der knappen Antwort war ihm nicht entgangen. Und in den kommenden Jahren würde man ihm noch manchen zähen Brocken hinwerfen, an dem es dann still und vergeblich kaute.
Zum ersten Mal in einer Kirche. In der ersten Reihe. Schräg drang das Winterlicht durch die Bilderscheiben und beleuchtete die Szene. Zu Hause hatte man geprobt. „Wenn er dir mit Wasser über die Stirn fährt, dann hältst du still!“, hatte ihr Mutter Irmgard eingeschärft. Alles, was Mira verstanden hatte war, dass sie heute getauft werden sollte. Deshalb die weissen Strumpfhosen und das lächerliche braune Samtkäppchen.
Sie betrachtete die Stäubchen, die im Lichtstrahl tanzten sowie den Säugling, der da vorne über ein Becken gehalten wurde. „So kommen wohl die Kinder zur Welt“, stellte sich Mira vor. „Auf einem Lichtstrahl, der durch eine Ritze in den Fensterläden ins Zimmer dringt, wo ein Bett vorbereitet worden ist.“ Neben den Leuten mit dem Säugling stand ein Junge, kleiner als Mira. „Wird der auch getauft?“, fragte sie laut flüsternd die Gotte neben sich. „Der ist schon getauft.“ - „Warum ist der schon und warum werde ich erst heute?“ Aber da fasste man sie bei den Händen und ging mit ihr zu dem Becken. Sie nahm kaum Notiz von dem Mann im schwarzen Kleid und seinen Worten. Die Wassertropfen kitzelten, als sie Richtung Nase rannen. Kaum hatte man sich zum Gehen gewandt, wischte sich Mira diese Taufe im Namen des Vaters mit einer brüsken Bewegung von der Stirn. Etwas daran stimmte nicht. Die Erwachsenen schienen rund um sie herum ein unverständliches Theaterstück aufzuführen.
Fräulein Läubli schneite einfach immer so herein. Oder hatte sie ihre Besuche angekündigt? Und wenn ja, wie? Ein Anruf war ausgeschlossen, denn es gab in der Wohnung kein Telefon. Aber wahrscheinlich gehörte es zu ihrer Aufgabe, überraschend aufzutauchen, um den Anwärtern keine Zeit zu lassen, sich in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Zu Irmgards Bestürzung reagierte das Kind von Anfang an mit Ablehnung auf die falsche Freundlichkeit dieser Person. Was hatte die in seinem Zimmer zu suchen?! Widerwillig zeigte ihr Mira eine Packung mit bunter Knetmasse. Die Schachtel enthielt auch eine Art spitzen Griffel, über dessen Verwendungszweck sie sich noch nicht ganz im Klaren war. „Damit kann man ganz spitze Näschen machen“, erklärte das Fräulein und verspielte auch noch den letzten Rest an Respekt vonseiten des Kindes. Es war zwar erst etwa drei oder vier Jahre alt, aber es hatte von andern Kindern schon deutlich zu verstehen bekommen, dass seine Nase zu lang und zu spitz war. Warum also musste Fräulein Läubli ausgerechnet in dieser Wunde bohren? Und erst noch mit einer Falschaussage. Denn obwohl Mira den spitzen Griffel noch kaum ausprobiert hatte, war ihr klar, dass man damit Löcher stechen oder Rillen ziehen, aber sicher nicht Nasen spitzen konnte. Bei der nächsten Begegnung - sie fand zufällig beim Einkaufen statt - weigerte sich Mira, Fräulein Läubli die Hand zu geben. Stumm liess sie danach Mutter Irmgards Fragen und Vorwürfe über sich ergehen, unfähig, ihre Gefühle auszudrücken. Der Begriff «Sozialarbeiterjargon» fällt ihr erst heute dazu ein. Und sie fragt sich, ob sie sich damals eigentlich mit ihrem Verhalten in Gefahr gebracht hatte. Was brauchte es, damit Eltern die Kinder wieder weggenommen wurden?
Der erste Kindergartentag. Alle Mütter kamen mit ihren Kindern an der Hand. Einzig Mutter Irmgard ging auch wieder mit ihrem Kind an der Hand. Die Kindergärtnerin hatte gemeint, es sei besser, wenn sie dieses Kind, das sich nicht von ihr trennen wollte, wieder mit nach Hause nähme. Mutter Irmgard war das unangenehm. Mira auch. Aber die Angst vor der Trennung war grösser als die Angst vor Strafe. Am Nachmittag desselben Tages, als Nachbarskinder sie abholen wollten, hängte sie sich schreiend an die Türklinke. Dafür gab es Bett und Dunkelhaft. Mutter Irmgard war ratlos. Einen Liebesbeweis vermochte sie in dieser Trennungsverweigerung nicht zu sehen. Das war es auch nicht. Das Kind traute einfach dem Versprechen nicht, dass man nach zwei Stunden Singen, Spielen und Spazieren wieder nach Hause gehen durfte. Zwei Jahre später, bei der Einschulung, als sich alle auf dem grossen Pausenhof einzufinden hatten, beobachtete Mira mit leisem Triumph ein Mädchen, das sich nicht von seiner Mutter trennen wollte. Diese Ängste hatte sie inzwischen überwunden, dachte sie.
Wenige Wochen, bevor Mira in die Primarschule kommen sollte, war sie einmal mehr krank. Da brachte ihr Nicole, ein etwas älteres Nachbarskind, ein Geschenk ans Bett: 57 solide bräunliche Blätter, gelocht und mit einer Schnur zusammengehalten. Auf der ersten Seite waren ein Mädchen und ein Junge abgebildet, darunter stand „Anneli und Hansli“. Mit jedem Blatt kamen neue Bilder und neue Wörter hinzu, und als Mira beim letzten Blatt angekommen war und das Bett wieder verlassen durfte, konnte sie lesen. In ihrer Erinnerung hatte dieser Lernprozess wie durch Zauberhand stattgefunden, ohne jede Anstrengung. Bestimmt hatte sie hin und wieder Mutter Irmgard oder Vater Alfons gefragt, was denn dies oder jenes heisse. Jemand musste ihr erklärt haben, das man Sch nicht S-ch ausspricht. Aber vielleicht war da ein Schuh abgebildet und dann war ja klar, dass man nicht S-chuh sagt. Von nun an war kein Buchstabe mehr vor dem Mädchen sicher, auch wenn es ausserhalb von „Anneli und Hansli“ noch auf viele Hindernisse stiess. So stand am Haus gegenüber in grossen braunen Buchstaben ACV ALLGEMEINER CONSUMVEREIN BEIDER BASEL, und Mira las zuerst Zonsumverein, liess sich aber sofort eines Besseren belehren. Das „beider Basel“ machte mehr Schwierigkeiten, denn auch die Erwachsenen konnten das nicht richtig erklären; schliesslich war Basel einmalig. Und so behalfen sich Generationen von Schulkindern mit der notdürftigen Erklärung, es handle sich um Gross- und Kleinbasel. Brenzlig wurde es für Irmgard, wenn Miras Leseversuche ungewollt das Terrain der deutschen Sprache verliessen. So entdeckte sie einmal an einer Litfassäule ein Wort mit seltsamen e: Amédé. Zum Glück wusste die Mutter: „Das ist französisch“ und konnte aufatmen. Im Gegensatz zu Alfons nahm Irmgard das Lernen sehr wichtig, was wiederum ein Glück für die Tochter war.
Selbstverständlich hätte Mira auch in der Schule lesen gelernt, wo die «Anneli-und-Hansli-Blätter» in den folgenden Wochen und Monaten ebenfalls ausgeteilt wurden; neue saubere Blätter, deren Zeichnungen noch nicht von Nicole ausgemalt worden waren. Mira wunderte sich, wie schwer sich manche ihrer Mitschülerinnen mit dem Lesen taten. Die lernten es eben nicht im Bett, mit Tee und einem Hustensirup, der unverschämt gut nach gesüssten Bittermandeln schmeckte. Er wurde, so erfuhr Mira später, bei Bronchitis empfohlen, besonders bei Kindern, die an Tuberkulose erkrankt waren.
Das Bett blieb Miras liebster Leseort, und das Leseglück wurde zur einzigen wirklichen Konstanten in ihrem Leben. Aber eigentlich staunt sie noch immer, dass es überhaupt möglich ist, ein paar Striche, Kreise und Punkte anzuschauen und daraus im Kopf eine Geschichte werden zu lassen.
Ab Herbst schrieb man mit Tinte. Die gusseisernen Tintenfässer, die in die Pulte eingelassen waren, wurden eines Tages von Schulabwart Sommerhalder mit Tinte gefüllt. Dazu trug er einen messingfarbenen Tank auf dem Rücken, aus dem seitlich ein langes metallenes Röhrchen ragte. Wie eine dicke blaue Biene bewegte sich Sommerhalder von Gefäss zu Gefäss, steckte das Röhrchen hinein, drückte auf einen Hebel und füllte sorgsam blauschwarze Flüssigkeit ein. Sämtliche Erstklässlermütter verfluchten ihn noch am selben Tag leise dafür, als sie der Schürzen und Pullover ihrer Kinder ansichtig wurden.
Geschrieben wurde mit Stahlfedern, deren zwei Hälften sich vorne merkwürdig aufrollten als wären sie mit einer winzigen Lockenschere bearbeitet worden. Das Eintauchen und Abstreifen der Feder, die in einem unelegant kurzen Federhalter steckte, gelang Mira problemlos, das Aufsetzen und Führen hingegen nicht. Entweder ging sie zu zögerlich ans Werk, was einen schwächlichen Strich hervorbrachte. Oder sie drückte so stark, dass die beiden Hälften der Feder sich spreizten und einen formlosen Balken produzierten, der nie ein Buchstabe werden konnte. „So also sieht das bei mir aus wenn ich schreibe“, stellte Mira fest. Ihre künftigen Lehrerinnen und Lehrer sollten es nicht bei dieser nüchternen Feststellung bewenden lassen und verordneten Schönschreibstunden. Seither schämt sich Mira, wenn sie auf einem Blatt Papier oder im Notizbuch ihrem Geschriebenen begegnet, und noch immer sucht sie nach ihrer Handschrift. Mal ist diese klein und knausrig, mal gross und schwungvoll. In der Regel vermischt sie Druckschrift und Schreibschrift. Um dann plötzlich Grossbuchstaben mit Unterschleife hervorzubringen, wie sie auf dem Kärtchen abgedruckt gewesen waren, das man an die Erstklässler verteilt hatte. Meist stehen die Buchstaben aufrecht da, manchmal leicht nach vorn geneigt, wie man es ihr beigebracht hatte. Aber noch heute kann es passieren, dass sich ihre Schrift nach hinten neigt, wie damals in der Mittelschule, wo solches als lässig galt. Dies lasse, so hat Mira später einmal gelesen, auf eine gewisse Unreife schliessen.
An einem gewitterschwarzen Nachmittag machte die Lehrerin einen Fehler. Sie zündete das Licht an. Zum allerersten Mal verwandelte sich das grosse dunkelrot getäfelte Klassenzimmer im Erdgeschoss in ein Abendzimmer. Weisse Kugeln beleuchteten vierzig kleine Mädchen und ihre Schreibhefte auf den schrägen Pulten. „Es ist Abend!“, durchfuhr es Mira. „Bald wird es Nacht, und ich bin nicht daheim! Die Lehrerin behält uns hier!“ Ein Blick auf eine Uhr hätte dem Kind gezeigt, dass es erst halb vier war. Aber damals besassen Kinder keine Armbanduhren. Auch in den Schulzimmern gab es keine Wanduhren, die den kleinen Seelen das Ende ihrer Qualen absehbar gemacht hätten. Und da erfasste das Mädchen eine würgende Angst, die seine Augen hinter den Brillengläsern zum Glänzen brachte. In seiner Not wandte es sich an die Lehrerin und fragte mit heiserer Stimme: „Nicht wahr, wir haben um vier aus?“ Als es den Blick wieder senkte, senkte sich auch eine dicke Träne, lief die Wimpern entlang und zerplatzte nass und rund auf dem Löschblatt. Die erlösende Antwort der Lehrerin, die die Angst vor einer Nacht im Schulhaus wie einen Spuk hatte verschwinden lassen, machte diese Pfütze lächerlich. Wütend stach Mira mit der Feder in den weichen Kreis. Er sog die Tinte gierig auf. Bis zur letzen Seite dieses Schulheftes sollte der blaue Punkt auf dem Löschblatt sie an ihre peinliche Not erinnern.
Mira lag in Vater Alfons’ Bett und wusste: „Die kommen nicht mehr.“ Es genügte, den Kopf nach links zu drehen zum Wecker mit den wundersam grünlich leuchtenden Ziffern und Zeigern, um sich zu vergewissern, dass keine Hoffnung mehr bestand. Zehn nach zwölf. Da ertönte eine Polizei-Feuerwehr-Ambulanz-Sirene, was damals nicht oft vorkam. Ein weiteres untrügliches Zeichen dafür, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie kroch unter der hochgewölbten Federdecke hervor, schlüpfte in die roten Pantöffelchen, die sie nach dem Kauf aus lauter Freude mit ins Bett genommen hatte, die ihr aber im Moment überhaupt nichts mehr bedeuteten, zog das rot und blau gestreifte Strickjäckchen an, nahm den Schlüsselbund mit dem überlangen alten Hausschlüssel an sich und verliess die Wohnung, den Hausgang, das Haus. Nach links, dann beim Coiffeurgeschäft um die Ecke die Strasse hinauf. Wenigstens wusste Mira, wohin die Eltern gegangen waren und von wo sie, falls sie jemals wiederkehren würden, zu erwarten waren oder wo sie überfahren, überfallen oder sonstwie verunglückt herumliegen mussten.
Am anderen Morgen würde sich Mira bewusst werden, wie lächerlich sie in ihrer hellrosa Pyjamahose und den Pantöffelchen ausgesehen hatte, als sie in der Dunkelheit dem grossen Platz zustrebte und den Schlüsselbund vor sich hertrug wie eine Bananenschale, für die man noch keinen Abfallkorb gefunden hat. Jetzt hatte sie nur Angst. Ein schwarzes Auto hielt am Strassenrand. Eine Frau rief sie herbei, und sie gehorchte, so wie sie immer gehorchte, ging nach Hause, legte Pantöffelchen und Jäckchen ab und schlüpfte zurück in Papis Bett. Die Aufregung war gewichen, sie nahm ihr Schicksal an. Zwar würden die Eltern nie mehr kommen, aber eines Tages würde man dieses alte Haus abreissen und dann, spätestens dann, würde man sie finden.
Mutter Irmgard fand das Jäckchen am falschen Platz. Mira gab alles zu. Es war ohnehin zwecklos, etwas zu erfinden, also erfand sie nie etwas. Die Schmach, die Scham waren grenzenlos. Vor allem als Mutter Irmgard die Geschichte der Nachbarin erzählte und nicht vergass zu erwähnen, das Kind habe versucht, alles wiedergutzumachen, indem es anderntags im Hallenbad sieben Züge ohne Schwimmring geschwommen sei.
Mira lernte schwimmen. Aber sie lernte nie, Sirenen in der Nacht nicht zu hören. Später, in einer Zeit und in einer Stadt, in der Sirenen zum Hintergrundgeräusch gehörten, war ihr noch jedes Mal klar, dass der Geliebte jetzt irgendwo plattgefahren oder kaputtgeschlagen herumlag und jede Hilfe zu spät kam. Anders als früher wartete sie jetzt nicht mehr auf die Abbruchfirma. Es gab Bücher, Jack Daniels oder „Die dargebotene Hand“.
Ein Dorf, irgendwo. Die kleine Mira besuchte mit Mutter Irmgard und deren Freundin Elsa irgendwelche Bekannte auf dem Land, die einen kleinen Lebensmittelladen führten. Das Schaufenster war voll mit hellblauen Schokoladepackungen und Mira staunte, als man ihr eine dieser Packungen in die Hand drückte. Sie war leicht - und leer! Eine Atrappe. Ob man ihr auch richtige Schokolade gegeben hatte, weiss Mira nicht mehr. Aber sie erinnert sich genau, wie sie Vater Alfons am Abend die leere Packung überreichte. Der freute sich mächtig – und war dann so bitter enttäuscht ob der Täuschung, dass er ihr Vorwürfe machte. Das betrübte sie sehr. Sie hatte ihm nicht weh tun wollen. Hatte gedacht, er würde das auch lustig finden, Schokolade-Packungen, in denen gar keine Schokolade drin ist. Aber ein bisschen übertrieben fand sie die Reaktion des Vaters schon. Sollte man denn nicht bereit sein, über einen gelungenen Witz zu lachen, auch wenn er auf eigene Kosten ging? Ging es denn nicht immer und überall um die gute Darbietung?
Der Coiffeur blickte auf das Kind herab und sagte: „Mit deinen langen Wimpern solltest du Schauspielerin werden.“ Daran gewöhnt, dass man den Erwachsenen immer zu gehorchen hatte, lebte Mira von da an mit dem Auftrag, Schauspielerin zu werden. Auf dem Thron im Coiffeur-Salon hatte sie sich nichts darunter vorstellen können. Aber nach und nach verband sie das Wort mit den Bildern, die sich ihr bei den seltenen Besuchen im Theater oder im Kino eingeprägt hatten: Zwei Kinder im Nachthemd, die auf dem Mond ein Maikäferbein holen mussten. Ein verwitweter Vater, der seine sieben Kinder mittels Trillerpfeife antanzen und der Grösse nach aufstellen liess. Ein junger Mann, der einen Mühlstein auf der Schulter mit sich herumtrug. Sie alle wurden von Schauspielern dargestellt. Bald konnte sich Mira nichts Wunderbareres mehr vorstellen, als ihnen zuzuschauen. Vor der Vorstellung rutschte sie auf ihrem Sitz herum, räkelte sich im Schaumbad-und-Champagnergefühl der Erwartung. Bald würde sich der Vorhang öffnen! Sie hatte dieses Gefühl lange vor ihrem ersten Glas Champagner gekannt, und sie empfand es auch noch Jahrzehnte später, als die meisten Kinos keine Vorhänge mehr hatten und ihre Besucher mit einer nackten Leinwand begrüssten. „Wie soll da ein Film laufen, auf diesen vielen Falten?!“, hatte Ruth gefragt, Miras neue Schulkameradin. Sie war eben erst aus irgend einem Kaff in die Stadt gezogen und konnte nicht wissen, dass der Vorhang geöffnet werden und vor ihnen eine riesige Rolle, ähnlich einer Schriftrolle, abgespult werden würde. Es dauerte Jahre, bis Mira ihren Irrtum bemerkte, und dies auch nur, weil sie sich einmal während der Vorstellung umgedreht und den Lichtschein bemerkt hatte, der durch den ganzen Saal ging.
Die Wonnen des Kinos und des Theaters wurden von Mutter Irmgard ermöglicht. Vater Alfons wäre nie auf die Idee gekommen; schliesslich war er als Kind auch nie im Kino gewesen. Jetzt gönnte er sich das Vergnügen alle zwei, drei Monate und schaute sich einen Kriegsfilm an. Einer hiess „Hunde, wollt ihr ewig leben“, und das Kind fragte sich, ob denn da auch Hunde mitspielten. Bevor Vater Alfons das Haus verliess, wusch und rasierte er sich am Schüttstein in der Küche; im Badezimmer gab es kein Waschbecken. Mira sass am Küchentisch beim Abendessen - Griesspudding, Birchermüesli oder Fotzelschnitten - und schaute ihm zu. Die graugrünen Hosenträger hatte er heruntergelassen, das Hemd ausgezogen. Sie staunte, wie gross und rund seine Schultern und Oberarme waren, und war traurig, dass er an diesem Abend nicht daheim sein würde.
Einmal im Jahr leistete sich Irmgard einen Besuch im Stadttheater, um sich eine Operette anzusehen, gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar und natürlich mit Alfons. Das Ereignis war jeweils mit hektischen Vorbereitungen verbunden. Prompt schnitt sich Alfons beim Rasieren und musste aufpassen, dass er das weisse, gestärkte Hemd nicht versaute. Während er Manchettenknöpfe und Krawatte montierte, schoss Mutter Irmgard zwischen Schuhschränkchen und Spiegelkommode hin und her bis das schwarze Kleid mit den roten Punkten sass und die richtigen Schuhe und die passende Kette gefunden waren. Irmgard jedoch agierte als fröhliche Täterin, während Vater Alfons das gutmütige Opfer abgab.
„Was möchtest du denn einmal werden?“ An diese Frage kann sich Mira nicht erinnern. Gut möglich, dass sie auch nie gestellt worden war. Die meisten Erwachsenen in ihrer Umgebung waren der Meinung, dass ein Mädchen nicht viel zu werden brauchte, da weibliche Berufstätigkeit nur der Überbrückung diente bis das Karriereziel – die Ehe – erreicht war. Was Miras Klassenkameradinnen aber nicht davon abhielt, Kindergärtnerin oder Primarlehrerin oder gar Säuglingsschwester werden zu wollen. Das irritierte sie; mit Kindern wollte sie nichts zu tun haben. Die lachten sie ja doch nur wegen ihrer grossen Nase aus. Vor allem aber konnte sie sich nicht vorstellen, wie man den Wunsch verspüren mochte, andere Menschen zu pflegen oder ihnen etwas beizubringen. Auch Berufswünsche wie Verkäuferin oder Postbeamtin machten sie ratlos. Wo blieb da der Glanz, das Geheimnis? Zum Glück hatte sie die Weisung bekommen, Schauspielerin zu werden. Der leichtfertig geäusserte Satz, vom Coiffeur von oben herab in ihr dünnes Haar gesprochen, hatte sich im Laufe der Jahre immer tiefer in ihrem Kopf eingraviert. „Ich möchte entdeckt werden!“, sagte sie, als Grossonkel Hans und Tante Hermine zu Besuch waren. „Sei froh, dass Papi dich entdeckt hat“, meinte Vater Alfons, und Mira fragte keck zurück: „Als was?“ Onkel Hans überbrückte die entstandene Stille mit der Bemerkung: „Als kleinen Schreihals.“ Mira spürte deutlich, dass das eine Anspielung war, sie wusste nur nicht genau, worauf.
Eine Zeitlang wurde sie der Film- und Theaterwelt untreu und wollte Detektiv werden. Das war, nachdem Vater Alfons einen Fernseher angeschafft hatte und sie mit ihm zusammen die Kriminalfilmchen im Vorabendprogramm sehen durfte. Mutter Irmgard konnte über diesen deplazierten Wunsch nicht einmal lachen. Aber ihre Meinung war ohnehin gemacht. „Unsere Mira geht einmal ins Büro“, hörte die erstaunte Tochter sie beim nachmittäglichen Kaffee und Kuchen zu einer Freundin sagen. Büro? Das war das, was Mutter Irmgard an Samstagnachmittagen und später jeden Abend putzen ging. In den Büros der vornehmen Anwaltskanzlei war ihr wohl der Gedanke gekommen, es müsse sehr schön sein, in einer so gediegenen Umgebung arbeiten zu dürfen. Darüberhinaus hatten die Sekretärinnen Kontakt zu Herren mit Doktortitel, und wer weiss … Als Irmgard in späteren Jahren abends zu müde war, um noch einmal das Haus zu verlassen, schickte sie die Tochter hin, um wenigstens die Papierkörbe und Aschenbecher zu leeren und die Fenster zu schliessen. Sie würde dann frühmorgens aufstehen und den Rest erledigen. Mira besah sich schüchtern die eleganten Räume mit den schweren dunklen Möbeln und den dicken Teppichen. Wirklich interessant fand sie nur die altmodischen Karikaturen, die der eine Anwalt in seinem Büro aufgehängt hatte. Die bescheidenen Pültchen der Sekretärinnen mit den grossen Schreibmaschinen, die unter Wachstuchhüllen dösten, die ordentlich gefüllten Papierfächer und die leicht verschmierten Stempelkissen hatten hingegen gar nichts Verlockendes. Mira blieb bei der Bühne, brachte gute Deutschnoten nach Hause, wurde fürs Gedichteaufsagen gelobt und spielte den Gessler im Schülertheater. Als sie später dann auch noch einen Freund hatte, für den es ebenfalls nur ein Dasein auf der Bühne geben konnte, stiess Mutter Irmgard einen ihrer schneidenden Lachschreie aus und rief: „Eine Schreinerstochter als Schauspielerin! Das ist ja lachhaft! Und weisst du auch, was du da machen musst, um Rollen zu bekommen, hm?! Dazu bist du nicht der Typ!“ Was es da zu machen gab, ahnte sie dunkel. Sie schob ihren Wunsch sofort auf und ging erst mal ins Büro. Eine solide Ausbildung in einem sicheren Beruf konnte schliesslich nicht schaden. Also spielte sie Sekretärin, Assistentin, Ehefrau, Hausfrau und immer und vor allem: Tochter.
Hedwig richtet sich auf und trocknet ihre Tränen. Jetzt müssen Sie mir sagen, was das zu bedeuten hat. Weshalb will Vater nichts mehr von mir wissen?
Gregers. Das dürfen Sie erst fragen, wenn Sie gross und erwachsen sind.
Hedwig schluchzt. Aber ich kann doch nicht immer so grässlich betrübt bleiben, bis ich gross und erwachsen bin. – Ich weiss schon, was es ist. – Vielleicht bin ich nicht Vaters richtiges Kind.
Gregers unruhig. Wie sollte das wohl zugehen?
Hedwig. Mutter kann mich ja gefunden haben. Und nun hat es Vater vielleicht erfahren. Von solchen Sachen habe ich schon gelesen.
Gregers. Na, und wenn es so wäre –
Hedwig. Ja, ich meine, dann könnte er deswegen mich doch ebenso lieb haben. Ja, vielleicht noch lieber. Die Wildente, die haben wir ja auch zum Geschenk bekommen, und doch habe ich sie so furchtbar lieb.
Gregers ablenkend. Ja, richtig! Die Wildente! Reden wir ein bisschen von der Wildente, Hedwig.
Mira sah Henrik Ibsens Stück „Die Wildente“ mit knapp zehn Jahren bei Tante Frieda. Die sass den ganzen Tag mit hochgelagerten Beinen vor dem Fernseher und rauchte. Und weil es nur ein Programm gab, schaute man neben Shows mit Peter Frankenfeld auch ernste und schwere Sachen, wie Mutter Irmgard alles Unvergnügliche zu nennen pflegte. Mira war von der Geschichte so aufgewühlt, dass sie den eigentlichen Schluss ausblendete. Sie blieb bei der ersten Vermutung, Hedwig habe nicht sich sondern die Wildente erschossen, und fand dies als Liebesbeweis dem Vater gegenüber durchaus in Ordnung. Ein paar Jahre danach, im Theater, war sie von Hedwigs Selbstmord erschüttert und fand, dies alles wäre nie soweit gekommen, hätte man von Anfang an die Wahrheit gesagt. Die zentrale Ausssage des Stückes: „Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nehmen Sie ihm sein Glück“, bekam sie damals nicht mit. Später fühlte sie beim Wort „Lebenslüge“ stets ein Unbehagen, obwohl sie es nie ganz verstand oder vielleicht gerade deswegen. Ihre Haltung gegenüber der „Wildente“ blieb nahezu unverändert: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Aber manchmal kamen doch Zweifel auf, ob Gregers mit seinem manischen Schürfen und Bohren nicht unnötiges Leid verursacht hatte. Und ganz abgesehen davon hegte sie manchmal auch Zweifel daran, ob sie wirklich für die Bühne taugte.
Louis Jeanneret, der Turnlehrer, war der Schwarm fast aller Schülerinnen an der Mittelschule. Einmal durfte Mira sein Handgelenk umfassen, um zu demonstrieren, wie man am Reck Hilfestellung leistet. Den Griff um den ausgeleierten Ärmel seines blauen Trainingsanzugs kann sie noch heute spüren, wenn sie will. Ihre Mitschülerin Mona wollte mehr. Das wilde Mädchen, das später Tänzerin werden sollte, raste absichtlich in die Tür der Turnhalle, stellte sich ohnmächtig und liess sich in Jeannerets Armen zur nächsten Schwebekante tragen. Mira war nicht neidisch auf dieses Privileg. Nur ein Talent wie Mona konnte einigermassen glaubhaft ein halbtotes Schneewittchen auf den Turnhallenboden legen, jede andere hätte nur eine peinliche Vorstellung gegeben. Mona versuchte Jeanneret und testete zugleich ihre Bühnenwirksamkeit. Heimlich vergötterte Mira die angehende Tänzerin und fing selber an, mit auswärts gedrehten Füssen zu gehen. Was bei ihr nicht nach Ballett aussah, sondern eher nach Chaplins Tramp. Wenn sie Mona beobachtete, blitzte manchmal kurz die Erkenntnis auf, dass ihr eigener Körper den Anforderungen der Bühne nicht gewachsen sei. In der Turnhalle und auf dem Sportplatz war sie eine Null. Jeanneret konnte sich nicht einmal ihren Namen merken und verwechselte sie stets mit der faden Helene. Obwohl sich Mira ihrer Unfähigkeit bewusst war, traf es sie hart, als der Turnlehrer einmal ihre Bewegungen als steif taxierte. Dieses Wort hatte sie von klein auf zu hören bekommen und war stets gekränkt gewesen, obwohl sie es nie richtig verstanden hatte. Warum sollte man beim Springen in die Knie gehen? Das war doch reine Zeitverschwenung. Für Mutter Irmgard war dieses Fehlen jeglicher Anmut eine weitere Enttäuschung. Das Kind hatte seine Füsse nicht unter Kontrolle und seine Hände auch nicht. Bleistifte, Gläser oder Haustiere wurden nicht gehalten, sondern umkrampft. Die Dinge gingen kaputt, die Tiere wehrten sich.
Mira schlug von klein auf überraschend heftig zu. Und konnte nicht begreifen, warum die anderen Kinder sich von ihr abwandten und davonrannten. Sie hatte sich doch nur an Erika gerächt, die sie hochgehoben und fallengelassen hatte, an einer Strassenecke auf dem Heimweg vom Kindergarten. Daraufhin hatte sie ihr die Faust in die Schläfe gerammt. Weiter nichs. Das hatte sie tun müssen, nachdem Erika ihr weh getan hatte. Auch als Mira die Episode am Sonntag am Familientisch erzählte, geriet die Demonstration ausser Kontrolle. „Ich hab doch nur so gemacht“, sagte sie und schlug Onkel Werner die Faust in die Schläfe. Zu stark. Sie verstand nicht, warum es ihm weh tat. Ihre kleine Faust? Die betreten dreinblickenden Grosseltern, Eltern, Onkel und Tanten mussten sich in diesem Moment gefragt haben, was in diesem Kind stecken mochte, wo dieses Verhalten wohl herkam?
Gewalt, so hatte Mira später einmal gelesen, sei eine Form von Kommunikation und werde von Menschen angewandt, welche die verbale Kommunikation schlecht beherrschten. Warum hatte sie dann so häufig zugeschlagen und wie eine Sprachlose reagiert? Oder waren in der kleinen Person Schläge und Sprache nicht doch ganz gut nebeneinander zurechtgekommen?
Was hatte Vater Alfons seiner Frau zugeflüstert, als er seine Lieben am Bahnhof abholte? Etwas, das Mira nicht hören sollte. Noch nicht. Aber verborgen bleiben konnte es ihr nicht lange, denn sie würde spätestens am nächsten Tag fragen, warum man Peter, den Wellensittich, noch nicht zurückgeholt hatte. Peter hatte nicht sprechen lernen wollen, aber auch sprachlos trug er viel zur Unterhaltung bei. Jeden Abend liess man ihn aus dem Käfig, worauf er sogleich auf den Lambrequin über dem Fenster flog, um die Welt von oben zu sehen, wie es sich für einen Vogel gehörte. Danach liess er sich hinabgleiten und landete meistens auf Miras Kopf. Die piekenden Krallen auf der Kopfhaut kann sie noch heute fühlen. Manchmal wählte Peter auch Mutters Stricknadeln als Zwischenstation. Sein hektisches Auf und Ab machte die Strickbewegungen erst sichtbar.
Und nun war Peter also tot. Gestorben während eines kurzen Ferienaufenthalts bei den Quendels. Den geizigen Quendels. War er verhungert? Hatten sie ihm die Körner weggepickt? Menschen, die am Abend dunkel angelaufene Salatreste vom Mittagessen als schlappe Fetzen aus der Sauce fischten, waren zu vielem fähig. Als nach Herrn Quendel auch Frau Quendel das Zeitliche segnete, sagte Vater Alfons zu Mutter Irmgard: „Siehst du, ein Leben lang haben sie gespart. Und jetzt? Jetzt haben sie einen Deckel auf der Nase!“
Am Tag nach der Reise lag das überempfindliche Kind krank in Vater Alfons’ Bett. Mutter Irmgard überbrachte Mira die traurige Nachricht und sie heulte los. „Ich will wieder einen Wellensittich!“, rief sie, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. Dann, in einer Mischung aus Übermut und Vorfreude: „Nein, ich will lieber einen Papagei!“ - „Du weißt doch, dass das in unserer Wohnung nicht geht!“, meinte Mutter Irmgard. Worauf Mira im kindlichen Steigerungsspiel ausrief: „Dann will ich einen Bruder!“ Es war der falsche Wunsch.
„Jetzt fängt die auch noch damit an!“, dachte Mira, als ausgerechnet die von ihr so sehr verehrte Lehrerein Fräulein Kopp fragte, ob sie früher Sturer geheissen habe. „Nein“, erwiderte sie, fest und beunruhigt, „ich heisse Burgstein!“ Die Lehrerin warf einen Blick in ihr Klassenbuch: „Oder heisst vielleicht dein Vater Sturer?“ – „Nein!!“ Der Name Sturer, dieses Missverständnis aus der Augenklinik, schien sie zu verfolgen. Sie hatte den Namen auch schon irgendwo gelesen. Fritz und Mina Sturer-Tanner hatte da gestanden. Sie wollte sich nicht daran erinnern. Wollte das Gehörte und Gelesene vergessen und verbannen. Die Lehrerin gab ihr einen Brief an die Eltern mit nach Hause. Sie traute sich nicht, ihn heimlich zu öffnen.
Vater Alfons wurde bei der Primarlehrerin vorstellig. Von ihrem Platz in der ersten Reihe sah Mira ihn draussen im Gang stehen, im Sonntagsanzug, ein gelbes Couvert in den Händen. Er nickte ihr aufmunternd zu. Das gelbe Couvert, auf dem er in gestochen scharfer Zierschrift „Familienbüchlein“ gemalt hatte, ging Jahrzehnte später in ihren Besitz über. Die rosafarbenen Blätter, die sie einmal im Schrank entdeckt hatte, musste Mutter Irmgard inzwischen entsorgt haben. Jedenfalls gab sie vor, nichts davon zu wissen. Dabei hätte das alte Kind das Geschriebene jetzt verkraftet. Damals, als 7-Jährige, hatte sie es nicht fertiggebracht, ihre eigene Geschichte zu lesen.
Mira sass auf dem Fussboden in Simons Zimmer. Der kleine Cousin hatte eine Spielzeugeisenbahn bekommen, und sie half ihm dabei, die Schienen im Kreis zu verlegen. Im Nebenzimmer plauderten die Eltern mit Alfons’ Bruder und seiner Frau, Onkel Werner und Tante Berti. Plötzlich wurde der Plauderton leiser. Für Mira war dies die Eingangsmelodie zu einer Kindersendung, die man nicht verpassen durfte. Sofort fuhr sie ihre Ohren aus und hörte Mutter Irmgard sagen: „Sie merkt alles. Sie hat auch gemerkt, dass du den Nikolaus gespielt hast.“ Ein Leben lang würde sich Mira darüber wundern, wie leichtfertig Eltern auch über Unsägliches sprechen, überzeugt, die Kinder würden schon nichts mitbekommen.
Die Sache mit dem Nikolaus war eine Beleidigung gewesen. Weil sie wieder einmal krank gewesen war, hatte sie bei der alljährlichen Nikolaus-Schelte im Haus der Grosseltern nicht dabei sein können. Stattdessen kam der Nikolaus ein paar Tage später zu ihr nach Hause, am hellichten Tag! Und erst noch ohne Bart! Nur in einer schwarzen Kapuzenpelerine. Aber damit nicht genug. Kaum hatte das immerhin schon mehr als acht Jahre alte Mädchen seinen Spruch aufgesagt, den Tadel entgegen genommen und den Nikolaus verabschiedet, da klingelte es erneut. Diesmal war es Onkel Werner. Er begrüsste Mira fröhlich, legte seine pralle braune Mappe auf den Tisch und entnahm ihr einen Lebkuchen. In der Mappe, das konnte sie deutlich sehen, lag ein zusammengefaltetes schwarzes Kleidungsstück. Warum nur waren die Erwachsenen immer so unvorsichtig?
Ein französisches Kindermädchen, das kaum Englisch sprach, brachte Cyril und Vyvyan Wilde, die Söhne von Oscar und Constance Wilde, im Frühling 1895 in aller Eile in die Schweiz. Cyril, bald zehn Jahre alt, ahnte, dass der Vater vor Gericht stand und sich eine Katastrophe anbahnte. Zwanzig Jahre später, kurz bevor er von einem deutschen Scharfschützen getötet wurde, schrieb er an seinen jüngeren Bruder Vyvyan: „Ich war neun Jahre alt, als ich den ersten Zeitungsaushang sah. Du warst auch dabei, aber du hast es nicht gesehen. Es war in der Baker Street. Ich fragte, was es bedeutete und erhielt eine ausweichende Antwort. Es liess mir keine Ruhe, bis ich es herausfand.“ Cyril sollte in seinem kurzen Leben nur ein Ziel verfolgen: Er wollte die Ehre der Familie wiederherstellen und wählte dafür die Militärlaufbahn.
Den eineinhalb Jahre jüngere Vyvyan trafen die Ereignisse völlig unvorbereitet. Die überstürzte Flucht aus England, nur mit dem allernötigsten Gepäck und ohne ein einziges Spielzeug, war ihm rätselhaft. Constance Wilde reiste ihren Kindern so bald wie möglich nach. Im Hotel du Righi-Vaudois in Glion verbrachten die drei eine relativ unbeschwerte Zeit. Bis Oscar Wilde am 25. Mai 1895 wegen Unzucht mit Männern zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer Zwangsarbeit verurteilt wurde. Der Fall fand auch Erwähnung in den Schweizer Zeitungen; Wilde war damals auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn als Schriftsteller und Theaterautor. Als der Hoteldirektor herausfand, wer die Frau und die zwei Jungen waren, fürchtete er um den guten Ruf seines Hauses und forderte sie höflich auf, dieses zu verlassen.
Bald darauf sah sich Constance genötigt, ihre Namen zu ändern. Aus Wilde wurde Holland. Vyvyans zweiter Vorname Oscar wurde gestrichen. In seinem Buch “Son of Oscar Wilde“, das er 1954 zum hundertsten Geburtstag seines Vaters herausbrachte, erinnert sich Vyvyan Holland an die verstörende Szene, als man ihm und seinem Bruder die Namensänderung verkündete: „Meine Mutter und mein Onkel waren so feierlich bei dem Ganzen, dass ich sofort merkte, dass etwas nicht stimmte. Aber es war ein vages Gefühl. Anders bei Cyril; er hatte bei einem Ferienaufenthalt bei Verwandten in Irland bereits zu viel entdeckt. Soweit ich mich erinnern kann, hat mein Bruder von diesem Tag an mir gegenüber nie wieder den Namen unseres Vaters erwähnt.“
Die Kinder sollten ihren Vater nie wiedersehen. Sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in der Familie der Mutter wurde Oscar Wilde totgeschwiegen, und so glaubte Vyvyan, sein Vater sei tatsächlich tot. Als die Mutter 1898 bei einer Operation starb, wähnte er sich als Waise. „Das Lähmende an der Tatsache, dass man keine Eltern hat, ist die ständige Gewissheit, dass da niemand ist, für den man der wichtigste Mensch auf der Welt ist. Und niemand, der dir eine Träne nachweint oder noch an dich denkt, falls du stirbst. Tatsächlich war mein Vater in Gedanken immer bei mir, aber weil man mir zu verstehen gegeben hatte, er sei tot, konnte ich dies nicht wissen.“
Wenn Mira heute ein Paar neue Strumpfhosen auspackt und dabei den dünnen weissen Karton mit den abgerundeten Ecken in der Hand hält, um den die Strumpfhosen gewickelt waren, dann denkt sie oft voller Rührung an Irmgard. Als sie ein Kind war, hatte ihr die Mutter dieses Stück Pappe immer zum Zeichnen gegeben. Heute, wo man die kindliche Kreativität mit möglichst grossen Papierbögen fördert, mag dies erstaunen. Aber damals musste ein kleines Format genügen, und es genügte auch. Einmal sass Mira mit ihren Farbstiften bei den Schweizer Grosseltern am Tisch. Neben ihr sass Tante Berti, die früher einmal in einer Porzellanfabrik Tassen, Teller und Vasen bemalt hatte. Jetzt zeichnete sie ihren kleinen Sohn Simon, der im oberen Stockwerk schlief, und begleitete jeden Bleistiftstrich mit zärtlichen Worten. Sie ähnelte dabei einer grossen Katze, die hingebungsvoll ihr Junges leckt. Irritiert blickte die Fünfjährige ihre Tante an. Solche Töne waren ihr fremd, und eine Ahnung beschlich sie, dass es Dinge gab zwischen Mutter und Kind, die sie nicht kannte. Sie wollte auch. Stolz blickte sie darum auf ihre eigene gelungene Zeichnung und verkündete laut: „Das Zeichnen hab ich von Tanti Berti!“ Gelächter. Lachte man sie aus? Sie verstand nicht. Diese Feststellung hatte sie doch schon so oft in unzähligen Abwandlungen gehört: „Das hat er vom Grossvater.“ – „Den harten Berner Grind hat sie eindeutig von der Mutter.“ – „Die dunklen Augen – eine typische Burgstein.“ Warum durfte sie nicht auch so etwas für sich beanspruchen?
Mit dem Freuen tat sich Mutter Irmgard schwer. Vorfreuden auf kommende Ereignisse dämpfte sie gewissenhaft mit Bemerkungen wie „Wenn nichts dazwischen kommt“ oder „Wenn wir dann noch leben“. Vorbereitungen auf Feste und Ferienreisen vergällte sie sich mit der Sorge um die passenden Kleider und mit der Aussicht, dass man hinterher wieder Unmengen von schmutziger Wäsche oder dreckigem Geschirr haben werde. War das Ereignis vorüber, stellte sie jeweils trocken fest: „Jetzt ist auch das wieder vorbei.“ Bei der Tochter nistete sich allmählich die Meinung ein, dass Freude, und vor allem Vorfreude, höchstens etwas für kleine Kinder war. Je grösser und erwachsener man wurde, desto mehr hatte man sich bewusst zu sein, dass jede Freude bereits Trauer und Enttäuschung, jeder Genuss bereits Reue in sich trug. Dass auch Mutter Irmgard einmal ein Kind gewesen war, lag ausserhalb des Möglichen. Und folglich auch der Gedanke, dass diese Frau sich früher auch einmal sorglos auf etwas gefreut hatte.
Wenn Mutter Irmgard wütend war, tobte sie nicht und schrie sie nicht. Die von Natur aus verkrampfte Person schien im Zorn zu erstarren, die Augen weit aufgerissenen, der Mund nur noch ein Strich. In solchen Momenten konnte es geschehen, dass sie das Kind Mina anstatt Mira nannte. Es wehrte sich nicht und stellte auch keine Fragen. Es hatte diesen Namen schon irgendwo gelesen und wusste, dass er etwas mit ihm zu tun hatte.
An eine Feier kann sich Mira nicht erinnern, wohl aber an die Torte. Ein Gebilde in Weiss und Rosa, auf welches mit Schokolade „Zur silbernen Hochzeit“ geschnörkelt war. Auf ihre Frage, was das bedeute, hatte Mutter Irmgard erklärt, sie und Papi seien heute fünfundzwanzig Jahre verheiratet. Fünfundzwanzig Jahre? Das schien ihr eine unendlich lange Zeit. Hatten nicht Lisas Eltern kürzlich ihren zehnten Hochzeitstag gefeiert? Und Lisa war neun Jahre alt. Das machte Sinn. Sie selber aber war demnach erst siebzehn Jahre nach der Hochzeit ihrer Eltern zur Welt gekommen. Darum waren Irmgard und Alfons jetzt auch schon so alt, nämlich bald Ende vierzig. Während die Eltern ihrer Schulkameradinnen in ihren frühen Dreissigern oder sogar erst Ende zwanzig waren. „Deine Eltern haben eben lange kein Kind bekommen“, meinte Lisa. Das klang zwar vernünftig, aber Mira befriedigte diese Erklärung nicht wirklich.
„Um wieviel Uhr bin ich eigentlich zur Welt gekommen?“, fragte Mira, als Mutter Irmgard gerade damit beschäftigt war, das dicke Barchentleintuch unter die Matratze zu stopfen. Sie hielt inne, warf einen hilfesuchenden Blick nach schräg oben und sagte: „Das weiss ich nicht mehr.“ Beunruhigt musste sich das Kind eingestehen: „Sie scheint es wirklich nicht zu wissen, hat es nie gewusst.“
Wohl gab es Zeiten, in denen Mira sich gewünscht hätte, in einem hellen, modernen Haus zu wohnen, mit glatten Türen ohne Füllungen, mit grossen Fenstern, die, wie es hiess, einfach zu putzen waren, mit einer Zentralheizung und einem richtigen Bad. So wie andere Leute. Aber im Grunde gefiel ihr das alte Haus mit seinen hohen Stuckdecken, dem knarrenden Parkett, den Terrazzo-Böden und verspielten Details. „Unser Haus sieht aus wie ein Schloss“, hatte sie einmal zu ihrer Freundin Lisa gesagt. Bis zur Familienwohnung im Parterre mussten vier Türen geöffnet und geschlossen werden. Durch das eiserne Gartentörchen gelangte man in den Vorgarten, wo Vater Alfons jedes Frühjahr in grossen Abständen mickrige Blümchen pflanzte. Über zwei Stufen erreichte man die massive Eichentür mit dem Messingknauf, den Irmgard regelmässig auf Hochglanz polierte. Wurde man eingelassen, musste man einen kühlen dunklen Gang durchqueren, wo damals, als die Frauen noch zu Hause blieben und dem Pöstler dreimal täglich die Tür öffnen konnten, die Briefkästen hingen. Es folgten weitere Stufen, ein Treppenabsatz und eine Windfangtür, die immer zu sein musste. Jetzt aber stand sie offen, die Haustür ebenfalls. Auf dem Treppenabsatz stand Mutter Irmgard und sprach mit einer unförmigen alten Frau, die den Gang beinahe ausfüllte. Beim Anblick des Kindes, das neugierig hinzugekommen war, rief die Alte: „Ist das Mira?! Die hat sich aber entwickelt! Wenn ich denke, wie sie aussah, als sie aus diesem Heim kam. Diese hängenden Arme!“ Mutter und Kind mussten danach wohl durch die grosse Eingangshalle mit dem Stern im Fussboden nach rechts durch die breite Tür mit den gemusterten Glasscheiben in die Wohnung gegangen sein. In Miras Kopf aber kreiste nur ein Wort: „Heim! Was denn für ein Heim?! Wo war sie gewesen? Wann? Wie lange?“ Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie nicht danach fragen durfte. Mutter Irmgard und Vater Alfons fragten auch nie. „Wer viel fragt, wird viel angelogen“, hiess es. Und so beschränkte man sich auf „Wie spät ist es? Regnets? War es schön? Hast du die Zähne geputzt? Wie ist es in der Schule gegangen?“ Nie fragten die Eltern, was in dem Gedicht vorkam, das die Kinder auswendig lernen mussten. Oder was Mira im Römermuseum gesehen hatte, in welchem die Klasse gewesen war. Wer fragt, weiss nicht. Wer nicht weiss, ist dumm. Wenn man sich als Erwachsener schon das Fragen verkneift, warum sollte sich dann ein Kind erdreisten dürfen, Fragen zu stellen? „Warum hat es unter dem grossen Stein im Garten so viele schwarze Tierchen? Warum habe ich keine Geschwister? Wer sind meine Eltern?“